Vom Gehen in der Kunst, über „Kunst für Keinen“ bis hin zur großen CHAGALL-Ausstellung. Die Ausstellungsvorschau 2022

WALK!

Der Akt des Gehens hat als gesellschaftliches Phänomen im 21. Jahrhunderts an neuer Bedeutung gewonnen. Neben der alltäglichen körperlichen Fortbewegung oder dem modernen Moment der Erholung und sinnlichen Erfahrung berührt er aktuelle Fragen des ökologischen, globalen, geopolitischen sowie ökonomischen Wandels. Mit der Gruppenausstellung „WALK!“ gibt die Schirn Kunsthalle Frankfurt einen Überblick zu der bisher wenig beleuchteten Facette des Gehens als Praxis in der gegenwärtigen Kunstproduktion. Gleichzeitig fragt sie nach der zeitgenössischen Auseinandersetzung und Erweiterungen der Walking Art, deren Ursprünge in Minimalismus, Land Art und Konzeptkunst der 1960er-Jahre liegen.

Die Schirn präsentiert über 40 internationale Künstler*innen, in deren Schaffen das Gehen ein wesentliches Element darstellt, darunter: Yuji Agematsu, Allora & Calzadilla, Francis Alys, James Bridle, Tiffany Chung, Sebastián Díaz Morales, Hamish Fulton, Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Fabian Herkenhoener, Jan Hostettler, Kubra Khademi, Bouchra Khalili, Pope.L, Milica Tomić. Die rund 100 Fotografien, Videoarbeiten, Collagen, Malereien und Skulpturen sowie Live-Performances und partizipativen Projekte im öffentlichen Raum verschränken das Gehen ästhetisch mit den Herausforderungen unserer Zeit, reflektieren aktuelle Debatten um Themen wie Globalisierung und Klimawandel und verfolgen Formen von Protest und Demonstration.

Tiffany Chung, A Thousand Years Before and After, 2012, Video (Farbe, Ton), 09:01 Min., Filmstill © Tiffany Chung
Signe Pierce & Alli Coates, American Reflexxx, 2013, Video (Farbe, Ton), 14:02 Min., Filmstill © The artists and Annka Kultys Gallery, London
CARLOS BUNGA

Das Nomadische bezeichnet Carlos Bunga (*1976) als charakteristisch für sich und seine Arbeit. Instabilität des Lebensraums, Vertreibung und Migration wirken prägend auf das Werk des Künstlers, dessen Mutter wegen des Bürgerkriegs in Angola nach Portugal floh. Bungas architektonische Installationen hinterfragen die Vorstellung von Sicherheit und Gewissheit der menschlichen und materiellen Existenz und setzen ihr die stetige Veränderung als einzige Konstante entgegen. Seine ortsspezifischen Arbeiten verdoppeln den Raum, in dem sie gezeigt werden: Sie stellen sich vor die Mauern, verdecken und verwandeln sie und ermöglichen ein Zwiegespräch der Architekturen. Bunga verwendet für seine monumentalen Werke einfache Materialien wie Kartonplatten und Klebeband. Die Alltäglichkeit des Materials, das meist in Verbindung mit Aufbewahrung und Transport steht, bildet eine Brücke zur unmittelbaren Realität des Lebens.

Für die Rotunde der Schirn Kunsthalle Frankfurt entwickelt der Künstler eine neue Installation, die auf die spezifische Architektur des öffentlich zugänglichen Ortes reagiert. Alte Möbelstücke bilden die Grundmauern einer bis unter die Glaskuppel wachsenden Kartonarchitektur. Durch die Begehung des Raums wird dieser aktiviert. Die räumliche Qualität der Arbeit eröffnet eine sowohl körperliche als auch mentale Erfahrung. Besucherinnen und Besucher können sich als lebendiger Teil der Gegenwart zwischen der in Stein gefassten Vergangenheit und der Idee einer möglichen Zukunft bewegen. Bungas Arbeit in der Rotunde tritt so in Dialog mit der Ausstellung „WALK!“, die zeitgleich in der Schirn präsentiert wird und das Gehen in der zeitgenössischen Kunst in den Fokus stellt.

Carlos Bunga, Installationsansicht © Secession, 2021, Foto: Iris Ranzinger
KUNST FÜR KEINEN. 1933–1945

Zwischen 1933 und 1945 kontrollierte das nationalsozialistische Regime das künstlerische Schaffen in Deutschland. Insbesondere Künstler*innen, die wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder politischen Einstellung verfolgt wurden, flüchteten vor den staatlichen Bedrohungen in die Emigration. Was aber passierte mit denjenigen, die im Land blieben? Isolation, fehlendes Publikum und mangelnder Austausch prägten das Schaffen jener, denen im Nationalsozialismus die Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen wurde. Ihre Situation wird oft pauschal als „Verfemung“ oder „innere Emigration“ beschrieben. Angesichts der vielschichtigen und widersprüchlichen persönlichen Umstände greifen diese Begriffe jedoch zu kurz.

In der umfassenden Überblicksausstellung „KUNST FÜR KEINEN. 1933–1945“ zeigt die Schirn Kunsthalle Frankfurt anhand von 14 ausgewählten Biografien, welche unterschiedlichen Strategien und Handlungsspielräume Kunstschaffende nutzten, die keinen Anschluss an das NS-Regime suchten oder fanden. Die Ausstellung definiert keine einheitliche stilistische Entwicklung, sondern beleuchtet mit individuellen Fallbeispielen und etwa 140 Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien die Widersprüchlichkeit dieser Zeit. Beteiligte Künstlerinnen und Künstler sind Willi Baumeister, Otto Dix, Hans Grundig, Lea Grundig, Werner Heldt, Hannah Höch, Marta Hoepffner, Karl Hofer, Edmund Kesting, Jeanne Mammen, Ernst Wilhelm Nay, Franz Radziwill, Hans Uhlmann und Fritz Winter.

Hannah Höch, 1945 (Das Ende), 1945, Öl auf Leinwand, 92,8 x 81,4 cm, Berliner Sparkasse © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
UGO RONDINONE. LIFE TIME

Ugo Rondinone (*1964) verleiht alltäglichen Dingen oder Phänomenen eine poetische Dimension. Ein Baum, eine Uhr, die Sonne oder ein Regenbogen – mittels Wiederholung, Isolation oder Reduktion setzt er sie in seinen charakteristischen, stets minimalistisch bespielten Räumen in einen neuen Kontext und schafft atmosphärische Stimmungsbilder. Die Schirn widmet Rondinone eine große Überblicksausstellung und präsentiert zentrale Gemälde, Skulpturen und Videoarbeiten des renommierten Schweizer Künstlers. Eigens für die Schirn gruppiert er seine Arbeiten zu neuen Konstellationen und Abfolgen und schafft dadurch eine einmalige Installation, die sich über die gesamte Länge der Galerie und in die Rotunde erstreckt.

Die Ausstellung „Life Time“ verbindet wesentliche Themen, die das Schaffen des Konzept- und Installationskünstlers seit 30 Jahren prägen: Zeit und Vergänglichkeit, Tag und Nacht, Realität und Fiktion, Natur und Kultur. Immer wieder greift Rondinone in seinen Arbeiten auf die Ikonografie der Romantik zurück oder zitiert aus der Literatur und Popkultur. Der Ausgangspunkt seines multimedialen Œuvres ist die Transformation der Außenwelt in eine subjektive, emotionale Innenwelt. Er entwirft Erfahrungsräume, in denen das Publikum selbst Teil der Installationen und ihrer immersiven Anlage wird.

Ugo Rondinone, life time (Rendering), 2019, Neon, Acrylglas, lichtdurchlässige Folie, Aluminium © The artist and Studio Rondinone
Ugo Rondinone, nude (xxxx), 2010, Wachs, Erde, Pigmente, 77 x 87 x 85,5 cm © The artist and Studio Rondinone, Foto: Stefan Altenburger
AERNOUT MIK

Die Raum- und Filminstallationen von Aernout Mik (*1962) schaffen eindringliche Situationen, die dem Verhalten und der Interaktion von Gruppen in oft instabilen gesellschaftlichen Kontexten nachgehen. Die Schirn präsentiert Aernout Miks Videoinstallation „Double Bind“ (2018) sowie die eigens für die Ausstellung konzipierte Arbeit „Threshold Barriers“ (2022). Beide Werke gehen den Suggestionen und Dynamiken von Sicherheit und Bedrohung, Macht und Ohnmacht im öffentlichen Raum nach und treten in der Schirn miteinander in Dialog.

In „Double Bind“ verhandelt der Künstler die Präsenz von bewaffneten Einheiten des staatlichen Schutzapparats. Scheinbar isoliert und ohne direkten Kontakt mit den Passanten bewegen sie sich in der Stadt. Dagegen zeigt „Threshold Barriers“ ein Geschehen, in dem Gesellschaft und Staatsmacht, Bürger und Polizei direkt aufeinandergetroffen sind und überkommene Strukturen von Autorität und Sicherheit ihre Gültigkeit verloren haben. Miks fiktive Szenarien bewegen sich zwischen Dokumentation und Performance und wirken zugleich vertraut wie befremdlich. Sie nehmen Bezug auf Bilder und Narrative von aktuellen Ereignissen wie Antiterror-Maßnahmen in europäischen Großstädten sowie internationale Proteste und Polizeigewalt gegen Demonstranten, die durch ihre mediale Verbreitung ins kollektive Bewusstsein eingegangen sind.

Aernaut Mik, Double Bind, 2018, Filmstill © The artist and carlier | gebauer, Berlin/Madrid
Aernaut Mik, Double Bind, 2018, Filmstill © The artist and carlier | gebauer, Berlin/Madrid
GAURI GILL

Abseits der urbanen Zentren Indiens erkundet die aus Chandigarh stammende Künstlerin und Fotografin Gauri Gill (*1970) seit über zwei Jahrzehnten das Leben und den Alltag der ländlichen Bevölkerung. In einem offenen, kollaborativen Prozess und entgegen dokumentarischen Konventionen widmet sie sich Themen wie Überleben und Selbstbehauptung, Identität und Zugehörigkeit, aber auch konzeptuellen Fragen nach Erinnerung und Autorschaft. Die Schirn präsentiert erstmals Gauri Gills vielschichtiges fotografisches Schaffen in einer großen Überblicksausstellung und versammelt rund 200 Werke aus zentralen Serien.

Die Dimension der Zeit und serielle Kontinuität sind ebenso wie Beharrlichkeit und Empathie entscheidende Faktoren ihrer künstlerischen Praxis. Fundament ihrer Arbeit und Ausgangspunkt mehrerer Fotoserien ist das archivarische Langzeitprojekt „Notes from the Desert“, in dem sich Gill seit 1999 den marginalisierten Gemeinschaften Rajasthans im westindischen Grenzgebiet widmet. Als Gegenpol zu ihren Projekten in der Wüste widmet sich die Fotoserie „The Americans“ (2000–2007) der vielfältigen Lebenswelt der indischen Diaspora in Hinblick auf Migration, Heimat und kulturelle Verbundenheit. Die Ausstellung zeigt zudem Gills kollaborativen Ansatz, u. a. in der Zusammenarbeit mit oft unbekannten Künstler*innen aus ländlichen Regionen. In ihrem jüngsten Werkkomplex „Acts of Appearance“ (seit 2014) etwa bezieht sie Masken von Pappmaché-Künstlern der Kokna- und Warli-Gemeinschaften in Jawhar, Maharashtra in improvisierte Alltagsszenen ein und entwirft so einen faszinierenden Dialog zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Gauri Gill, Untitled (5), 2015-heute, aus der Serie Acts of Appearance, Pigmentdruckverfahren, 60,9 x 40,6 cm © Gauri Gill
CHAGALL. WELT IN AUFRUHR

Marc Chagall (1887–1985) gilt als Poet unter den Künstlern der Moderne. In einer großen Ausstellung beleuchtet die Schirn Kunsthalle Frankfurt eine bislang wenig bekannte Seite seines Schaffens: Chagalls Werke der 1930er- und 1940er-Jahre, in denen sich seine farbenfrohe Palette verdunkelt. Das Werk und Leben des jüdischen Malers wurde maßgeblich durch die Kunstpolitik der Nationalsozialisten und den Holocaust geprägt. Bereits in den frühen 1930er-Jahren thematisierte Chagall in seiner Kunst den immer aggressiver werdenden Antisemitismus und emigrierte 1941 schließlich in die USA. Sein künstlerisches Schaffen in diesen Jahren berührt zentrale Themen wie Identität, Heimat und Exil. Mit über 100 eindringlichen Gemälden, Papierarbeiten, Fotos und Dokumenten zeichnet die Ausstellung die Suche des Künstlers nach einer Bildsprache im Angesicht von Vertreibung und Verfolgung nach. Sie präsentiert wichtige Werke der 1930er-Jahre, in denen sich Chagall vermehrt mit der jüdischen Lebenswelt beschäftigt, zahlreiche Selbstbildnisse, seine Hinwendung zu allegorischen und biblischen Themen, die bedeutenden Gestaltungen der Ballette „Aleko“ (1942) und „Der Feuervogel“ (1945) im Exil, die wiederkehrende Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt Vitebsk und Hauptwerke wie „Der Engelssturz“ (1923/1933/1947). In der Zusammenschau ermöglicht die Schirn eine neue und äußerst aktuelle Perspektive auf das Œuvre eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts.

 

Marc Chagall, Der Engelssturz, 1923-33-47, Öl auf Leinwand, 147,5 x 188,5 cm, Kunstmuseum Basel, Depositum aus Privatsammlung © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Martin P. Bühler
AUSBLICK 2023: NIKI DE SAINT PHALLE

Niki de Saint Phalle (1930–2002) zählt zu den bekanntesten Künstlerinnen ihrer Generation. Die visionäre Außenseiterin entwickelte eine unverwechselbare Formensprache und schuf ein ebenso eigenwilliges wie facettenreiches Werk. Die „Nanas“, ihre bunten, großformatigen Frauenfiguren, begründeten ihren internationalen Erfolg und gelten bis heute als ihr Markenzeichen. Dabei ist das künstlerische Spektrum der Autodidaktin sehr viel breiter, ihr Werk subversiver und gesellschaftskritischer als weithin angenommen. In einer umfangreichen Ausstellung beleuchtet die Schirn Kunsthalle Frankfurt das vielseitige Schaffen dieser außergewöhnlichen Künstlerin. Niki de Saint Phalle entwickelte ihre Kunst aus ihrer ganz persönlichen Gefühlsverarbeitung wie auch aus einer radikal feministischen Haltung heraus. Sie nahm sich sozialer und politischer Themen an, kritisierte Institutionen und Rollenbilder und verhandelte in ihrem Werk öffentliche Diskurse, die bis heute ihre Relevanz behalten haben. Ihre legendären „Schießbilder“ entstanden in provokativen Performances und ihre eindrücklichen Installationen im öffentlichen Raum zeugen von einer transformativen Wirkungskraft ihrer Kunst, die sich ebenso in Malerei, Zeichnung, Assemblagen, Aktionen und großformatigen Installationen, aber auch in Theater, Film und Architektur entfaltete.

Leonardo Bezzola, Niki de Saint Phalle, Luzern, 1969, Kunsthaus Zürich, Foto © Nachlass Leonardo Bezzola, Werk © Niki Charitable Art Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

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