Die größte karmische Verbindung
03.07.2024
11 min Lesezeit
Nicht gewählte Familien prägen uns, egal in welcher Verbindung wir zu ihnen stehen. Und sie bringen uns oft dazu, uns auf die Suche zu begeben. Nach Wahlfamilien, die wir uns selbst aussuchen können, um uns von den Dynamiken unseres Aufwachsens zu emanzipieren. Aber wie frei kann man sich wirklich machen? Und muss man das überhaupt?
Nach einer langen Diskussion erzählte mir mein Vater – ein praktizierender Buddhist – einmal, dass eine buddhistische Philosophie besage, ein Mensch trüge keine stärkere karmische Verbindung durch sein Leben als die Beziehung zu seinen Eltern. Und obwohl ich mir vorstellen kann, dass da etwas dran sein könnte, ist es mir nie gelungen, diese These in meinem Kopf so lange hin und her zu spielen, bis sie glatt genug ist, um nicht mehr so sehr ins Herz zu schneiden.
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Bleiben wir wirklich immer verbunden, egal in welchem Status sich die Beziehung zu den Eltern befindet – eventuell, weil man sie nicht kennt, sie nicht mehr leben, man sie aus politischen Gründen nicht sehen kann oder vielleicht auch einfach nicht mehr sehen will?
Bereits der Versuch zu verstehen, auf welche karmische Beziehung sich diese Aussage genau bezieht, gestaltet sich für mich als schwierig. In meinem Fall ist eine Zuordnung noch simpel. Meine biologischen Eltern, diejenigen, die ich nicht frei und bewusst gewählt habe, sind meine Eltern. Im Fall meiner besten Freundin ist dem nicht so. Ihre biologischen Eltern sind nicht die Menschen, die sie meint, wenn sie über ihre Eltern spricht. Ausgesucht hat sie sich diese Familie trotzdem nicht, denn sie wurde adoptiert.
In vielen Diskursen über die Notwendigkeit von Wahlfamilien schwingt für mich die Auffassung mit, dass es wichtig ist, sich vom Nicht-Gewählten zu befreien, wenn es schmerzhaft und gewaltvoll ist. Papas Aussage fühlt sich hingegen so an, als würde die buddhistische Weisheit verschmitzt kichern, weil sie genau weiß, dass dies unmöglich ist.

„Wenn es um eine Auseinandersetzung mit Elternschaft geht, dann funktioniert das Mitschwimmen auf der heteronormativen Welle für die meisten nicht, weil es kein queeres Fahrwasser gibt, in dem man sich treiben lassen kann.“
Sophie Yukiko

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Nicht nur die queeren Menschen, die sich dazu entscheiden, in gemeinsamer Elternschaft Kinder zur Welt zu bringen, sind damit konfrontiert, den katholisch-europäisch geprägten Familienbegriff dekonstruieren zu müssen. Davon abgesehen, dass das Abziehbildchen der sogenannten Bilderbuchfamilie genauso selten etwas mit der Realität zu tun hat, wie Happy Ends in Disney-Filmen, und nicht einmal für Hetero-Beziehungen besonders gut funktioniert, passen queere Menschen ohnehin nicht in diese Schablone. Für manche stellt das Lösen von dieser Erzählung eine Befreiung dar, für andere löst sie Identitätskrisen aus.
Queere Menschen haben diese Form der Identitätskrise nicht gepachtet, doch queere Lebensrealitäten haben oft zur Folge, dass sie diesen Fragen nicht so lange ausweichen können wie nicht-queere Menschen. Wenn es um eine Auseinandersetzung mit Elternschaft geht, dann funktioniert das Mitschwimmen auf der heteronormativen Welle für die meisten nicht, weil es kein queeres Fahrwasser gibt, in dem man sich treiben lassen kann. Aber auch Cis-Hetero-Personen, kommen eventuell an einen Punkt, an dem sie sich fragen müssen, ob sie Familie wollen, wie sie Familie wollen, und was es für sie bedeutet, wenn sie die Normvorstellung nicht erfüllen.
Wann immer diese Fragen gestellt werden, wird es schnell existenziell. Wenn ich nicht zu denjenigen gehöre, mit denen ich verwandt bin, wessen Kind bin ich dann? Und wenn ich kein Kind zur Welt bringen kann oder möchte, welche Rolle kann ich dann in einer Gemeinschaft einnehmen, um weiterhin eine Verbindung zu spüren?

Was bedeutet Familie außerhalb der Normvorstellung?
Eine Auseinandersetzung mit dem Familienbegriff ist allerdings nicht nur für das Seelenheil des Individuums notwendig, sondern in Zeiten von Scheidungen, Patchworkfamilien und einem politischen System, welches für genau die Familienidee ausgelegt ist, die quasi nur noch in Ausnahmefällen funktioniert, auch gesellschaftlich unumgänglich. Ein Lebensweg ist nicht dazu ausgelegt, ihn alleine zu bestreiten. Emotional sind wir nicht dafür gemacht, den Herausforderungen der Welt alleine zu begegnen, doch strukturell sind wie es erst recht nicht. Ich glaube, dass sich viele Menschen einen Staat wünschen, der genau die Familien und Beziehungen, die real existieren, unterstützt, anstatt sein System an eine Vorstellung von Familie zu knüpfen, die für die meisten Menschen nicht mehr lebbar ist. Zwei alleinerziehende Freund*innen, die füreinander Sorge tragen, sind nicht weniger Familie als das, was uns beigebracht wurde. Und fünf Senior*innen, deren Kinder auf der ganzen Welt verteilt leben und sich nicht ausreichend um ihre alternden Eltern kümmern können, sind ebenfalls eine Familie, wenn sie eine sein möchten. Um ehrlich zu sein, habe ich mir auch selbst oft eine zugängliche, strukturelle Unterstützung gewünscht, wenn es darum ging, der von mir getragenen Fürsorge für „meine Kids“ – junge erwachsene Menschen, die mit ihren eigenen nicht gewählten Familien nicht immer den besten Draht haben – zu begegnen.
Wir brauchen Rückhalt, Unterstützung und Verständnis. Wenn wir von diesen Dingen in unserem familiären Umfeld nicht ausreichend umgeben sind, begeben wir uns auf die Suche nach Menschen, die mit uns gehen und hoffentlich ersetzen können, was fehlt oder gefehlt hat. So einfach wie das im ersten Moment klingt, ist es aber oft nicht. Die Suche nach Gemeinschaft und Wahlfamilie gestaltet sich für viele als Odyssee, die von Ablehnungserfahrungen, schwer zu navigierenden Gruppendynamiken und einer Kommunikationskultur, die für die meisten Menschen zu kryptisch geworden ist, um als zuverlässiger Kompass genutzt werden zu können, begleitet werden. Dabei will man nur eins – endlich ankommen.


Und das Ende vom karmischen Lied?
Diese Erfahrung war für mich eine schmerzhafte. Es war ernüchternd feststellen zu müssen, dass es den Sehnsuchtsort „heile Familie“ auch dann nicht gibt, wenn ich ihn selbst wähle, und dass ich darüber hinaus nicht in der Lage gewesen war, bestimmte Prägungen von mir abzuschütteln, die mitverantwortlich dafür waren, dass wir als Gruppe nicht länger bestehen konnten.
Aber vielleicht geht es beim Prinzip Karma ja auch gar nicht darum, dass es nicht weh tun darf. Je älter ich werde, desto mehr ergebe ich mich der Tatsache, dass ich viele Eigenschaften nicht mehr loswerde. Eine Prägung kann vielleicht auch einfach eine Prägung sein, ohne Wertung. Und in der einen oder anderen erkenne ich langsam sogar ein wenig Schönheit. Die Anteile an mir selbst zu akzeptieren, die ich lange als unangenehm empfand, bedeutet für mich auch, meine Eltern zu akzeptieren. In letzter Konsequenz macht das nicht nur etwas mit dem Gefühl, das ich für sie empfinde, sondern auch mit meiner Haltung zu mir selbst.
An der großen karmischen Verbindung zwischen Kind und Eltern muss etwas dran sein. Aber vielleicht funktioniert sie eben auch für Eltern-Kind-Beziehungen, die wir nicht gleich als solche erkennen oder die wir uns selbst aussuchen. Vielleicht akkumulieren wir unser familiäres Karma nicht nur in den Umständen, in die wir hineingeboren werden, sondern auch dort, wo wir uns freiwillig hinbewegen. Und vielleicht geht es mehr um das Heilen dieser Verbindungen als um ein Befreien davon. Am Ende ist ohnehin beides schmerzhaft. Relationen kann man heilen, wenn man möchte. Diese Wahl kann man frei treffen – egal um welche Art der Familie es sich handelt.

„An der großen karmischen Verbindung zwischen Kind und Eltern muss etwas dran sein. Aber vielleicht funktioniert sie eben auch für Eltern-Kind-Beziehungen, die wir nicht gleich als solche erkennen oder die wir uns selbst aussuchen.“
Sophie Yukiko