Erfahrungen für alle Sinne: Eine Ausstellung im Frankfurter Kunstverein lädt zum Eintauchen in virtuelle und konstruierte Welten ein.

„Ich habe schon Höhenangst“ – „Gott, es ist ja schrecklich!“ –„Das ist ja cool“ – „Abgefahren!“: Nicht alle Tage erlebt man Ausstellungsbesucher so bewegt, beteiligt und mitgerissen. Eine Menschentraube hat sich um die Besucherin gebildet, die gerade, wie ein Superheld, durch Hochhausschluchten fliegt. Zuvor stieg sie aus einem Hochhausaufzug, vor ihr lediglich ein Holzbrett, angebracht in 160 Meter Höhe über einer Skyline. Dass es sich dabei um ein Virtual-Reality-Spiel handelt, ist zwar erwähnenswert, ändert aber wenig an der Intensität des individuellen Erlebnisses.

„Plank Experience“ heißt das Spiel des australischen Entwicklerkollektivs Toast. Es ist über eine Virtual-Reality(VR)-Brille und einen Controller erfahrbar. „Erfahrung“ ist ein Wort, das am ehesten zu den virtuellen Umgebungen passt, die im Frankfurter Kunstverein zu sehen sind. Jeder Besucher muss selbst die VR-Brille aufsetzen, um sich der jeweiligen Erfahrung auszusetzen. Und die ist beinahe total. Schon als man im (rein virtuellen, was man schnell vergisst) Aufzug steht, der immer weiter hochfährt, bekommt man einen Schweißausbruch. Dann geht die Tür auf. Vor einem das Brett (das auch real vor dem Benutzer ausliegt, um den Effekt zu steigern), darunter ein zugiger, angsteinflößender Abgrund.

Das ist wirklich unangenehm

Die VR-Erfahrung beansprucht alle Sinne. Die Höhenangst und die Beklemmung, aber auch die Freiheit im Flug (die man anstatt des Brett-Erlebnisses auswählen kann) sind körperlich unmittelbar spürbar. Die Gespräche der im Raum anwesenden Menschen klingen irgendwann wie Störgeräusche aus einer eigentümlich fernen Welt. Die in der virtuellen Realität Gefangenen wirken bisweilen hilflos – nicht nur in ihren Bewegungsabläufen. „Das ist wirklich unangenehm. Weil ich viele Meter in die Tiefe gucke“, sagt ein Besucher, der gerade die „Plank Experience“ wagt.

Toast, "Plank Experience", 2016; Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein

Nebenan sitzt ein junger Mann mit aufgezogener VR-Brille auf einer (realen) Schaukel. Er bewegt sich immer schneller und möchte scheinbar gar nicht aufhören. Auf einem Monitor kann man erahnen, dass er in einer virtuellen Landschaft gen Himmel schaukelt, in immer luftigere Höhen kommt. Seine Freunde stehen schon Schlange. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass die VR-Schaukel „Swing“ heißt und von den Künstlerinnen Christin Marczinzik und Binh Minh Nguyen entwickelt wurde. Die Ausstellung zieht, so scheint es, auch Besucher an, die sich sonst nicht im Kunstkontext bewegen.

Der Raum setzt sich ins Unendliche fort

Wie blass „analoge“ Kunst, der man ansonsten begegnet, auf einmal wirken kann, wie starr und in die Ecke gedrängt! Gegen die Unmittelbarkeit virtueller Höhenflüge kommt sie, weil sie vor allem den Intellekt fordert, nur schwer an. Das kann man von Hans Op de Beecks Rauminstallation „The Garden Room“ glücklicherweise nicht behaupten. Op de Beeck hat einen Raum im Raum erschaffen, der fast vollständig in monochromem Grau gehalten ist. Der Betrachter findet sich in einer Art Pavillon mit einem Seerosenteich in der Mitte, einigen Bäumen, Sofas und einer Tierfigur wieder. Der Raum ist teils verspiegelt und setzt sich scheinbar ins Unendliche fort.

Christin Marczinzik & Thi Binh Minh Nguyen, "Swing", 2015; Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein
Hans Op de Beeck, "The Garden Room", 2017; Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein

Die einzigen Farbtupfer in der ansonsten wie eingefroren wirkenden Szenerie sind vereinzelte Blüten auf den Bäumen, die sich im imaginären Wind biegen. Meditative Musik ist zu hören, schnell taucht man in diese sonderbare Welt ein, die wie eine verlassene Filmkulisse anmutet. Es ist erstaunlich und ermutigend, wie gut sich Hans Op de Beecks Illusionskunst gegen die schiere technologische Überlegenheit der Virtual Reality behaupten kann. Vielleicht noch erstaunlicher ist, dass VR mittlerweile auch von Sicherheitsbehörden eingesetzt wird. Die Abteilung „Zentrale Fototechnik und 3D-Tatortvermessung“ des Bayerischen Landeskriminalamts zeigt in der Ausstellung digitale, mittels VR-Brille betretbare Visualisierungen realer Tatorte.

Doppelmord im Wohnzimmer

Die virtuellen Tatorte sind weder Spiel noch Fiktion, sie kommen in der Arbeit der Ermittler zum Einsatz. „Wir legen den größten Wert auf Präzision“, versichert ein LKA-Mitarbeiter. So kann der Ausstellungsbesucher einen Obduktionsraum betreten und eine Leiche (auch von innen!) untersuchen. Ein exakt nachgebildetes, kleinbürgerliches Wohnzimmer, in dem ein Doppelmord stattgefunden hat, lässt sich ebenfalls erkunden. Spätestens hier wird deutlich, welche Potenziale in der VR-Technik schlummern, wie vielfältig sie jenseits von Spiel und Unterhaltung genutzt werden kann. Als künstlerisches Medium muss die virtuelle Realität noch ihre Sprache finden.

Bayerisches Landeskriminalamt - Zentrale Fototechnik und 3D-Tatortvermessung, Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein
Manuel Roßner, "Wetware", 2017; Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein

Einen möglichen Ansatz zeigt die VR-Installation „Wetware“ von Manuel Roßner. Der in Berlin lebende Künstler hat den Kunstverein digital nachmodelliert. Mittels VR-Brille lässt sich das menschenleer und verlassen wirkende Gebäude erkunden. Im Zentrum der Installation steht ein gewaltiger Kubus, der durch die Decke bricht, sich daraufhin verflüssigt und den Ausstellungsraum flutet. Der Betrachter kann mit einem Controller Verhalten und Aggregatzustand des Kubus beeinflussen. Roßner hat eine ortsbezogene, skulpturale Arbeit konzipiert, die sich im virtuellen Raum entfaltet. Den realen, steinernen Kunstverein verlässt man indes etwas wehmütig. Wann hat man schon in einer Ausstellung so viele herabhängende Kabel gesehen, so viele Menschen mit klobigen VR-Brillen, die wie Schlafwandler wirken? Ein Anfang nur, könnte man meinen. Die virtuelle Kunst lernt erst zu fliegen.

Manuel Roßner, "Wetware", 2017; Foto: N. Miguletz, Copyright; Frankfurter Kunstverein

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