Der Plastik-Hype erfasst in den 60er-Jahren die Kunstwelt, in der man vom sogenannten „Plastic Age“ spricht. Insbesondere die Pop Art macht sich den Kunststoff zu eigen, doch auch die Nouveaux Réalistes, denen Niki de Saint Phalle angehörte. Wie stand die Künstlerin zum neuartigen Werkstoff?

Ein neuer Werkstoff erobert Ende der 1950er-Jahren die Welt und damit auch die Kunst: die Rede ist von Kunststoff, umgangssprachlich Plastik genannt. Industriell wird dieses erstmalig im Jahr 1907 hergestellt. Der wirkliche Durchbruch erfolgt allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit bekommt Plastik eine neue gesellschaftliche Bedeutung: Es ist schnell zu produzieren, günstig und vor allem neu. Dafür steht das Material und wird damit zur Triebfeder des demokratischen Massenkonsums. Eine kritische Perspektive in Bezug auf gesundheitliche Folgen sowie eine ökologische Kritik bleibt damals weitgehend aus.

Die Entstehung des „Plastic Age“

 Der Plastik-Hype erfasst in den 60ern auch die Kunstwelt, in der man vom sogenannten „Plastic Age“ spricht. Insbesondere die Pop Art macht sich den Kunststoff zu eigen. Die schlichtweg unendlichen Möglichkeiten des Materials in Bezug auf Form, Farben und Belastbarkeit passen in die Zeit und prägen politische Bewegungen – beispielsweise die Jugendkulturen, denen es vor allem darum geht, sich von der Nachkriegsgeneration mit ihren traditionellen Werten abzusetzen.

Eine Künstler*innengruppe, die sich diesem Phänomen ebenfalls bedient, sind die Anhänger*nnen des „Nouveau Réalisme“. So unter anderem der französisch-amerikanische Künstler Arman (Armand Pierre Fernandez) in seinem 1960 entstandenen Werk „Le Plein“, bei dem er durch gesammelten Müll in Paris auf den Überfluss der modernen Konsumgesellschaft aufmerksam macht. Doch auch wenn die Gruppe dem Werkstoff generell kritisch gegenübersteht, verwenden sie ihn in ihren Arbeiten. Einerseits weil es ihnen darum ging, mit neuen Techniken, Praktiken und Materialien die Realität des Lebens durch die Kunst abzubilden und andererseits, um auf die inhärenten Ambivalenzen und Gefahren von Kunststoffen hinzuweisen. Arman explizierte diese Kritik und sprach sogar davon, dass die Welt im Plastik ersticken würde. 

Arman: Le Plein, Galerie Iris Clert, 1960. Ausstellungsansicht, Image via artnote.eu

Niki de Saint Phalle und ihr Hang zum Kunststoff

Auch die Künstlerin Niki de Saint Phalle war Teil der Gruppe „Nouveau Réalisme“. Während sie zu Anfang in ihren Assemblagen viel mit Draht, Stoff und Gips arbeitet, verändert der Werkstoff Plastik ihre Arbeiten in den folgenden Jahren fundamental. Das neu entdeckte Material war unter anderem die Voraussetzung für die weltbekannten „Nanas“, bei denen sie vorrangig mit Polyester arbeitete. Die übergroßen Frauenplastiken fallen durch die perfekt gearbeiteten Rundungen, bunten Farben und ihre öffentliche Präsenz auf: Alles Eigenschaften, die der verwendete Kunststoff durch Flexibilität, Beschaffenheit und Langlebigkeit gewährleistete.

Auch in ihren Assemblagen findet sich der Kunststoff in Form von Spielzeug, Schuhen und anderen Alltagsgegenständen wieder, die sie recycelte und in die Form ihrer Werke einfließen ließ. Bei der Arbeit mit Plastik wurden allerdings nicht selten giftige Dämpfe freigesetzt (beispielsweise durch das Schneiden des Kunststoffs mit heißem Draht), die sich negativ auf die Gesundheit der Künstlerin auswirkten. Auch wenn zu dieser Zeit noch ein niedrigeres Risikobewusstsein in Bezug auf die körperlichen Auswirkungen herrschte, waren de Saint Phalle die Kehrseiten des Werkstoffes durchaus bewusst, wenngleich sie fasziniert von den Möglichkeiten des Materials war.

Niki de Saint Phalle, Kennedy-Kroutchev, 1962 © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

In ihrer Biografie schreibt sie: „Ich wollte Plastik verwenden, um etwas Neues und Unerwartetes zu schaffen“. Ganz in der Tradition des „Nouveau Réalisme“ gehe es ihr außerdem darum, die gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden, zu der auch Plastik gehöre: „Es ist das Material unserer Zeit. Es ist überall und es hat eine starke Wirkung auf uns. Ich wollte es in meiner Kunst verwenden, um darauf aufmerksam zu machen, wie es uns beeinflusst“. Ihre aus Plastik-Müll zusammengesetzten Collagen lassen sich deswegen durchaus als eine Kritik an der modernen Wegwerfgesellschaft deuten.

Auf der anderen Seite war sie jedoch selbst Profiteurin des konsumorientierten Kunststoff-Hypes, indem sie ihre Kunst seriell herstellte und in Form von Luftballons oder Strandspielzeug verkaufte. Diese Abhängigkeit von Plastik in ihrer künstlerischen Praxis war wohl einer der Gründe, wieso de Saint Phalle sich von diesem nicht freisprach.

Es ist das Mate­rial unse­rer Zeit. Es ist über­all und es hat eine starke Wirkung auf uns. Ich wollte es in meiner Kunst verwen­den, um darauf aufmerk­sam zu machen, wie es uns beein­flusst

Niki de Saint Phalle
Kunst als Mittel des Überlebens

„Meine Arbeit ist autobiografisch, sie ist meine Verbindung zur Wirklichkeit“, sagte de Saint Phalle über ihre Arbeiten. In diesem Zitat spiegelt sich wider, was ihre Werke für sie bedeuteten. Ohne ihre Kunst sei sie entweder im Gefängnis oder in der Psychiatrie gelandet, sagte sie an anderer Stelle. Viele ihrer Werke sind politischer Natur: die „Nanas“ ein Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen, die „Schießbilder“ ein Mittel, um ihre Wut gegen Unrecht zu kanalisieren. Mit dem Werkstoff Plastik hatte de Saint Phalle die Möglichkeit, Kunstwerke zu schaffen, die vermeintlich unvergänglich sind und ihre Botschaften damit ebenso. So lässt sich unter anderem erklären, wieso sie trotz der schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden nicht aufhörte, mit Polyester zu arbeiten, denn in gewisser Weise war ihre künstlerische Vision und die gewählte Praxis selbst ein Mittel, um zu überleben.

Niki de Saint Phalle, Nana rouge jambes en l'air, um 1968 © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris
Ein kritisches Naturbewusstsein

Die ökologische Kritik an Plastik wurde erst in den 1970er-Jahren laut. Vor dem Hintergrund der Ölkrise und dem vom „Club of Rome“ herausgegebenen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) transformierte sich der Fortschrittsgedanken bezüglich des Werkstoffes zu einer öffentlich wahrgenommenen Bedrohung für die Umwelt.

Niki de Saint Phalle hatte allerdings schon vor dieser Entwicklung ein kritisches Bewusstsein in Bezug auf die Natur-Mensch-Beziehung. In Werken wie „King-Kong“ (1963) oder „Kennedy- Kroutchev“ (1962) prangert sie an, wer aus ihrer Sicht für die zerstörerischen Mächte ihrer Welt stehen, in diesem Fall Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy, die symbolischen Köpfe der atomaren Bedrohung ihrer Zeit. Und nicht nur in diesen Werken, sondern auch in ihrem bekannten Tarotgarten zeigt sich ihr besonderes Verhältnis zur Natur. So äußert sich ihre langjährige Mitarbeiterin Pierre Marie Lejeune wie folgt: „Niki hat immer darauf geachtet, sich in die Umwelt zu integrieren und sie zu respektieren. Natürlich gab es Ausgrabungen, aber die Vegetation wurde immer durch Neupflanzungen wiederhergestellt“. Ziel sei unter anderem gewesen, den Tarotgarten als einen Ort, an dem Natur, Menschen und Skulpturen zusammenkommen, zu etablieren. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich die Ambivalenz, in der Niki de Saint Phalle zu dem von ihr so geliebten Material Plastik gestanden haben muss, das sie über die verschiedenen Schaffensphasen ihres Lebens hinweg begleitete.

 

Niki de Saint Phalle, King-Kong, 1962 © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris
Niki de Saint Phalle, Jardin des Tarots, 1991 © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

PLASTIC WORLD

In der kommen­den Ausstel­lung „PLAS­TIC WORLD“ nimmt sich die SCHIRN der span­nen­den Geschichte von Kunst­stof­fen in der bilden­den Kunst an. Zu sehen ist diese vom 22. Juni bis zum 01. Okto­ber 2023.

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