Durch ihre explosiven „Schießbilder" wurde Niki de Saint Phalle schlagartig berühmt. Doch wo fanden die Schießaktionen eigentlich statt? Wir werfen einen Blick auf die „Tatorte“ dieser schöpferischen Zerstörungsakte.
Was ist überhaupt ein „Schießbild“? Bei den „Schießbildern“ (frz. „Tirs“) handelt es sich um auf Holz montierte oder freistehende Objekt-Assemblagen, die Niki de Saint Phalle mit einer weißen Gipsschicht überzog. Unter die Objekte mischte sie Farbbeutel, gefüllt mit flüssiger Farbe. Auch Spraydosen kamen zum Einsatz. Diese zunächst blütenweißen Werke traktierte die Künstlerin mit Schusswaffen. Die versteckten Farbeinschlüsse explodierten und die Farbe spritzte, tropfte und rann über die Werke.
Bis heute haben diese Werke nichts von ihrer Faszination verloren. Das liegt wahrscheinlich an ihrer Radikalität aber auch an ihrer besonderen Deutungsoffenheit. Interpretationen schlagen oft psychologisierende Richtungen ein. Sie sehen die Bilder als Ventile für angestaute Aggressionen, als Rebellion einer starken Künstlerinnenpersönlichkeit gegen die patriarchale Gesellschaft und ihre unflexiblen Geschlechterrollen. Niki de Saint Phalle trug selbst durch Texte und Zitate zu solchen Lesarten bei. Zugleich wurden die Bilder als Gewaltakte interpretiert oder – im Geiste des Surrealismus – als Ausdruck sexualisierter Ektase. Pierre Restany, Cheftheoretiker der Nouveaux Réalistes, betonte begeistert das „Wolkenbruchartige“ in de Saint Phalles Schaffen. Zurecht wurde auch auf die den Werken innewohnende Ambivalenz von emanzipativer Geste und künstlerischer Selbstinszenierung verwiesen und auf das explosive Gemisch aus Schöpfung, Zerstörung und Zufall, das ihnen innewohnt. Noch recht wenig Beachtung fanden bislang jedoch die viel unterschiedlichen „Tatorte“, an denen die Aktionen stattfanden. Was können sie uns über die Künstlerin und ihr Werk erzählen?
Schüsse im Hinterhof – die Impasse Ronsin
Die ersten überlieferten Schießaktionen fanden im Februar 1961 in Paris statt. Genauer: in einem Hinterhof in der Impasse Ronsin am Montparnasse. Auf den ersten Blick wirkt dieser Ort sehr gewöhnlich: eine relativ kleine offene Fläche, begrenzt von einer etwas heruntergekommenen Häuserwand und einem Lattenzaun. Allerdings war dieser „Tatort“ keineswegs irgendeinen Hinterhof. Die Impasse Ronsin war auch nicht irgendeine Sackgasse, sondern ein Epizentrum künstlerischen Lebens im Paris jener Jahre. Das Baseler Museum Tinguely widmete dem Ort 2020 sogar eine ganze Ausstellung mit dem aufregenden Titel „Mord, Liebe und Kunst im Herzen von Paris“. Darin war zu erfahren, dass der Ort im frühen 20. Jahrhundert als Tatort eines Doppelmords notorische Bekanntheit erlangte, bevor er einige Jahrzehnte später zu einer lebhaften Künstler*innenkolonie wurde. Der berühmte Constantin Brancusi arbeitete hier bis zu seinem Tod 1957 und hier befanden sich auch die Wohnung und das Atelier Jean Tinguelys, die er ab 1960 mit Niki de Saint Phalle teilte. Besagter Hinterhof sollte de Saint Phalle in den folgenden Jahren noch häufig als Schießstand beziehungsweise Freiluftatelier dienen.
Going Public – Zu Gast in Museen und Galerien
Auf die ersten beiden Aktionen folgten noch im selben Jahr um die 13 weitere Schießaktionen. Viele waren Teil von Ausstellungen oder Festivals. Damit wurden auch die „Tatorte“ öffentlich sichtbarer. Bereits wenige Wochen nach den ersten Schüssen in der Impasse Ronsin war Niki de Saint Phalle am Amsterdamer Stedelijk Museum zu Gast. Anlässlich der Ausstellung „Bewogen Beweging“ führte sie dort am 12. März 1961 eine Schießaktion durch. Als Ort wählte sie diesmal das grasbewachsene Ufer eines Kanals oder Teichs. Fernab des Großstadttrubels entstanden hier fünf verhältnismäßig kleine Bilder, eines davon rund wie eine Zielscheibe. Für die Aktion wurden sie an einem Baum befestigt.
Während der zweiten Station der Ausstellung im Moderna Museet, Stockholm wurden gleich zwei Schießaktionen realisiert. Die erste fand am 14. Mai 1961 in einem Hinterhof statt. Die ästhetische Nähe dieses Orts zur Impasse Ronsin war möglicherweise beabsichtigt, denn die Aktion war eine Inszenierung für das schwedische Fernsehen. Bald sollten weitere Aktionen für die Filmkamera folgen. Für die zweite Stockholmer Aktion unternahm de Saint Phalle einen Ausflug mit Freund*innen auf die vor Stockholm gelegene Insel Värmdö. Dort wurde in einer Sandgrube geschossen. Eines der beiden dort entstandenen „Tirs“ ist in der SCHIRN-Ausstellung zu sehen. Bei der Wahl dieses Ortes – ein Privatgelände – spielten wohl nicht zuletzt Sicherheitsüberlegungen eine wichtige Rolle. In Schweden wie in den meisten Europäischen Ländern ist der Besitz und Gebrauch von Schusswaffen streng reguliert und fällt nicht in den Rahmen der Kunstfreiheit.
Bis zu diesem Zeitpunkt fanden die Schießaktionen in einem verhältnismäßig privaten Rahmen statt. Doch bald erweitere de Saint Phalle die Sichtbarkeit und Reichweite ihrer Aktionen. Ein besonders kurioser „Tatort“ für eine Schießaktion, am 10. Juni 1961, war das Theater der amerikanischen Botschaft in Paris. Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely waren hier zur Mitwirkung an einer Aufführung der Komposition „Variations II“ (1961) von John Cage eingeladen. Während der Avantgarde-Musiker David Tudor den musikalischen Part bestritt, zeigten bildende Künstler*innen – darunter auch Robert Rauschenberg – ihre Werke auf der Bühne. Niki de Saint Phalle sorgte mit einem „Schießbild“ für Aufregung. Es heißt, dass wegen des Sicherheitsrisikos für das Publikum ein Scharfschütze engagiert werden musste. Das entstandene Werk befindet sich heute in der Sammlung des MoMA.
In etwa zeitgleich bereitete Niki de Saint Phalle ihre erste Galerieausstellung vor. Sie entwickelte dafür eine neue Werkreihe, die „Old Masters“. Dabei handelt es sich um kleinformatige „Schießbilder“ in opulenten goldenen Rahmen. Ort der Ausstellung mit dem Titel „Feu à volonté“ (dt.: Feuer frei) war die Galerie J, eine kleine Avantgarde-Galerie, deren Räumlichkeiten in einer ehemaligen Motorradgarage in der 8 Rue de Montfaucon lagen. Anlässlich der Eröffnung am 30. Juni 1961 fand hier die erste Schießaktion unter Beteiligung der Öffentlichkeit statt. Jean Tinguely hatte dafür eigens eine Art Schießstand entworfen, um die Sicherheit der Besucher*innen zu gewährleisten.
Über den großen Teich – Schießaktionen in Kalifornien und New York
Die Kunde von der schießenden Künstlerin verbreitete sich offenbar in Windeseile. Es dauerte nicht lange, bis Niki de Saint Phalle eingeladen wurde, ihre Kunst auch in den USA zu demonstrieren. Im März 1962 inszenierte sie mit der Unterstützung lokaler Galerien ihre erste Schießaktion in Los Angeles. „Tatort“ war diesmal der in einer Seitgengasse gelegene Parkplatz des Renaissance Club, einem Jazzclub am Sunset Boulevard. Ab dieser Aktion trug Niki de Saint Phalle ihren ikonischen weißen Schießanzug. Sie wirkt darin wie eine Mischung aus Supermodel und Superheldin. Eine Fotografie zeigt sie in diesem Aufzug auf einer Leiter stehend und mit einem Gewehr auf ein riesiges Tableau zielend. Im Hintergrund sind die typischen Hinterhoffassaden amerikanischer Holzhäuser zu sehen. Vielleicht liegt es an der Nähe zu Hollywood: die Szenerie wirkt wie die Filmkulisse eines surrealen Ganovenfilms.
Ähnlich inszeniert, nun aber die glamouröse Seite Hollywoods reflektierend, wirkt eine zweite Aktion, die wenige Tage später bei strahlendem Sonnenschein in den Malibu Hills stattfand, einem Wohn- und Erholungsort der Schönen und Reichen.
Aus Kalifornien reiste de Saint Phalle gemeinsam mit Tinguely weiter an die Ostküste. In New York schuf sie ihr monumentales Werk „Gorgo in New York“ (1962). Als sein Entstehungsort gilt das legendäre Chelsea Hotel, wo die Kunst-Avantgarde der 1960er-Jahre ein und ausging. Niki de Saint Phalle und Tinguely wohnten und arbeiteten dort mehrmals während ihrer Aufenthalte in New York. „Gorgo in New York“ ist eines von mehreren Bildern, auf denen amerikanische Wolkenkratzer zu sehen sind, die von einem oder mehreren Monstern angegriffen werden. Nach den Angaben der Künstlerin war dieser Topos einerseits ihrer Vorliebe für Horrorfilme geschuldet, andererseits ihrer Beschäftigung mit den Schattenseiten des American Dream und der mit dem Kalten Krieg verbundenen allgegenwärtigen atomaren Bedrohung. Das Werk „King Kong“ (1962), das in der SCHIRN zu sehen ist, bedient sich einer sehr ähnlichen Bildsprache. Es entstand ebenfalls in den USA, allerdings in einem Atelier in Los Angeles für eine Einzelausstellung in der Dwan Gallery.
1964 endete bereits die Ära der „Schießbilder“. Erst im Jahr 1970 kehrte de Saint Phalle noch einmal zu diesem Werkkomplex zurück. Anlass war ein großes Festival zum 10-jährigen Jubiläum der Nouveaux Réalistes in Mailand. Tatort dieses Spektakels war vermutlich der Mailänder Domplatz. Eine Fotografie zeigt, wie die Künstlerin – offenbar nach Einbruch der Dunkelheit – ihr Gewehr auf ein hell beleuchtetes „Tir“ in Form eines großen Altars richtet. Die beachtliche Publikumsmenge im Hintergrund wird von italienischen Carabinieri beschützt. Niki de Saint Phalle trug diesmal nicht ihren weißen Schießanzug, sondern ein schwarzes Kostüm mit weißen Manschetten und einem großen Kreuz um den Hals. In diesem Aufzug wirkt sie, als trüge sie ihre „Schießbilder“ feierlich zu Grabe – um sich fortan anderen Werken und neuen künstlerischen Strategien zu widmen.
Geheimer Mord im Hinterhof oder inszenierte Kunst-Exekution?
Welche Funktion erfüllten die Tatorte und was erzählen sie uns über die „Schießbilder“? Meist handelte es sich um eher abgelegenere Orte – Hinterhöfe, Parkplätzen oder die Natur. Gelegentlich waren es aber auch Kunstinstitutionen, wie Galerien, Museen und sogar Theaterbühnen. Insgesamt lassen sich all diese Orte in zwei Typen einteilen: die einen, wie die Impasse Ronsin oder das Chelsea Hotel, glichen einer privaten Ateliersituation und dienten zur Vorbereitung von Werken für Ausstellungen. Die anderen, darunter die Sandgrube bei Stockholm, der Parkplatz in Los Angeles oder das Theater der amerikanischen Botschaft in Paris waren hingegen Aktionsorte für öffentliche Performances.
Die Schießaktionen erweisen sich als eine nur bedingt ortsspezifische Praxis. Die „Schießbilder“ entstanden dort, wo sich die Gelegenheit bot. Nur gelegentlich ist ein direkter Zusammenhang zwischen den Entstehungsorten und dem Inhalt der Werke festzustellen, beispielsweise bei „Gorgo in New York“ oder dem Altar vor dem Mailänder Dom. Auch die „Old Masters“-Serie scheint für eine Galerieausstellung prädestiniert. Bei den größeren Assemblagen bestehen auf der Ebene der integrierten Alltagsgegenstände Bezüge zum Entstehungsort. Bei den meisten Schießaktionen scheint die Wahl des Ortes aber in erster Linie von pragmatischen Überlegungen abhängig gewesen zu sein. Dazu gehörten nicht nur die Nähe zur gastgebenden Institution, sondern auch rechtliche Fragen und vor allem die öffentliche Sicherheit.
Betrachtet man heute die entstandenen Werke, zeugen die explosiven Farbspuren und Perforationen von der Intensität der Aktionen, die sie hervorgebracht haben. Sie evozieren den Knall der Schüsse und das beinah als physischen Schmerz erfahrbare, gewaltsame Eindringen der Patrone in die Werkoberfläche. Um diese Intensität zu spüren, ist es nicht zwingend, die Entstehungskontexte zu kennen. Der Blick auf die „Tatorte“ kann aber zeigen, dass die Aktionen nicht ganz so spontan und „wolkenbruchartig“ waren wie von Pierre Restany impliziert. Vielmehr handelte es sich um genau geplante und inszenierte Ereignisse. Es waren gleichermaßen kontrollierte und rebellische Akte des Kunstschaffens, in enger Symbiose mit der Kunstwelt der Zeit entstanden, und dennoch bemerkenswert eigenwillig.