Niki de Saint Phalle eroberte mit ihren radikalen „Schießbildern“ die Kunstwelt im Sturm. Allerdings realisierte sie diese Werke selten allein. Wer unterstützte sie dabei? Wir werfen einen Blick auf ihre Netzwerke in der Kunstszene und die Kompliz*innen hinter den Schießaktionen.

Obwohl es sich nicht um die frühesten Arbeiten von Niki de Saint Phalle handelt, wohnt den „Schießbildern“ (frz.: „Tirs“) im Kontext ihres Gesamtwerks eine Art „Urknall-Moment“ inne. Mit ihnen wurde die Künstlerin über Nacht berühmt. Es überrascht also nicht, dass die SCHIRN-Ausstellung mit einem Einblick in diesen zwischen 1961 und 1964 entstandenen Werkkomplex beginnt

Ausstellungsansicht Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2023, Foto: Norbert Miguletz

Bei den „Schießbildern“ handelt es sich um Objektassemblagen, die de Saint Phalle mit Schusswaffen traktierte. Dabei explodierten zuvor unter einer weißen Gipsschicht verborgene Farbeinschlüsse und aktivierten die Farbe, die sich nun wie von selbst über die Bilder ergoss. Kunsthistorisch lassen sich die Werke als konzeptuelle Malerei und als Vorläufer des Happenings und der Performancekunst lesen. Sie sind Ausdruck einer vielschichtigen Entgrenzung der Kunst in jener Zeit. Damals arbeiteten Künstler*innengruppen, wie die französischen Nouveaux Réalistes, deren einziges weibliches Mitglied de Saint Phalle war, an einer (Wieder-)Vereinigung von Kunst und Lebensrealität. Dazu gehörte, dass Kunstwerke nicht mehr als geniale Schöpfungen einsamer Künstler*innengenies verehrt, sondern als integraler Bestandteil der Wirklichkeit sichtbar werden sollten. Dem künstlerischen Umfeld und dem Publikum kam damit eine neue Rolle zu: sie wurden mitunter direkt am Schöpfungsprozess beteiligt. So auch bei den „Schießbildern“, die oftmals Ergebnis kollaborativer Prozesse waren. Wer waren die Kompliz*innen, die mit Niki de Saint Phalle radikale „Attentate“ auf die Kunst verübten? Was können sie uns über die Arbeitsweise und die Netzwerke der Künstlerin verraten?

Im Kreis der Nouveaux Réalistes

Die erste überlieferte Schießaktion fand am 12. Februar 1961 in einem Hinterhof der Pariser Impasse Ronsin statt. Hier hatten Niki de Saint Phalle und ihr Kunst- und Lebenspartner Jean Tinguely ihr Atelier. Eine Fotografie der Aktion zeigt eine kleine Menschengruppe. Im Vordergrund zielt ein Mann im schwarzen Mantel mit einer Pistole auf ein Werk, das in der Fotografie nicht zu sehen ist. Bei dem Schützen handelt es sich um keinen Geringeren als Pierre Restany, Mitbegründer und „Cheftheoretiker“ der Nouveaux Réalistes. Hinter ihm stehen seine damalige Partnerin Jeannine de Goldschmidt, Inhaberin der Galerie J, und der Künstler Daniel Spoerri. Ebenfalls anwesend waren Jean Tinguely und der Leihgeber der Waffe, ein Schießbudenbetreiber. Die Aufnahme machte der Fotograf Harry Shunk. Er gehörte, gemeinsam mit seinem Partner János Kender, zu den wichtigsten Chronisten der Europäischen und US-Amerikanischen Kunst-Avantgarde.

Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely im Hof der Impasse Ronsin, 1962, Foto: Vera Mercer; © Vera Mercer/courtesy °CLAIR Galerie, Image via tinguely.ch

Diese Aktion war offenbar weder spontan, noch öffentlich. Es handelte sich vielmehr um eine Art Insider-Kunstwelt-Event. Pierre Restany erinnerte sich später, dass Tinguely ihn und Jeannine de Goldschmidt zu der Aktion eingeladen hatte. Tinguely nutze offenbar seine Kontakte, damit de Saint Phalle nicht nur als seine glamouröse Begleiterin – als Bankierstochter und Vogue-Covergirl war sie in der Szene bereits bekannt –, sondern als ernstzunehmende Künstlerin wahrgenommen wurde. Damit hatte er Erfolg: Restany war begeistert von de Saint Phalles Kunst, die in seinen Augen „in vollen Zügen die authentische Wirklichkeit ihrer Zeit atmete“. Er erkläre die Künstlerin umgehend zum Mitglied der Nouveaux Réalistes.

Hier war sie in bester Gesellschaft. Mitglieder waren unter anderem Yves Klein und Daniel Spoerri, mit denen sie das Interesse an der Aktionsmalerei und dem Medium der Assemblage teilte. Ihr wichtigster künstlerischer Kollaborateur und Sparring-Partner war und blieb aber Jean Tinguely. Er war an der Herstellung fast aller „Schießbilder“ direkt beteiligt. Er half bei der Herstellung der Bildgrundlagen aus Holz, Draht, Objekten und Gips. Für den Beschuss größerer Tableaus baute er kleine Kanonen mit verschiedenen Knall- und Raucheffekten. Für eine Ausstellung in Jeannine de Goldschmidts Galerie J entwarf er einen Schießstand, von dem aus das Publikum schießen konnte. Zugleich nahm er an nahezu allen Schießaktionen teil, oft aktiv als Schütze, aber auch passiv als Zuschauer.

Ausstellungsansicht, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz
Eine lebenslange Freundschaft – Pontus Hultén

Für die internationale Verbreitung von Niki de Saint Phalles Arbeiten war vor allem der schwedische Museumsmann und Kurator Pontus Hultén von Bedeutung. Die Künstlerin hatte ihn bereits 1959 kennengelernt und er sollte zu einem ihrer wichtigsten Förderer werden. Wenige Wochen nach den ersten Schüssen in der Impasse Ronsin lud Hultén sie zur Teilnahme an seiner Ausstellung „Bewogen Beweging“ ins Amsterdamer Stedelijk Museum ein. Thema der Ausstellung war, wie der Titel bereits sagt, Kinetische Kunst, also Kunst in Bewegung. In diesem Rahmen fand am 12. März 1961 auch eine kleinere Schießaktion statt. Unter den Anwesenden waren neben Hultén und Tinguely auch Niki de Saint Phalles Schwester Elisabeth, der MoMA-Kurator William Seitz, der Künstler Per Olof Ultvedt und der Fotograf János Kender. Im Rahmen der zweiten Station der Ausstellung, die unter dem Titel „Rörelske i konsten“ (dt.: Bewegung in der Kunst) in Stockholm im Moderna Museet stattfand, dessen Direktor Hultén war, wurden gleich zwei Schießaktionen inszeniert. Eine für das Fernsehen, die andere in einer nahegelegenen Sandgrube. An letzterer Aktion nahm auch der Künstler Robert Rauschenberg teil, der selbst an der Ausstellung beteiligt war und gerade in Europa weilte.

Pontus Hultén beim Aufbau von „Hon, en Katadral", 1966,  Foto: TT Archiv, Image via gp.se

Tinguely, de Saint Phalle und Rauschenberg,1961,Shunk-Kender © Roy Lichtenstein Foundation, Image via art-folio.ch

Zurück in Paris kam es erneut zur Zusammenarbeit mit Rauschenberg sowie dem Maler Jasper Jones. Zunächst im Rahmen einer experimentellen Musikperformance im Theater der amerikanischen Botschaft in Paris, währen der auch ein „Schießbild" entstand. Da die beiden berühmten Künstlerkollegen aus New York nun schon einmal vor Ort waren, ließ Niki de Saint Phalle sie auch gleich auf zwei weitere ihrer Bilder schießen. Während Rauschenberg wie wild feuerte und dabei rief: „Red! Red! I want more red!“ überlegte Johns – so erinnerte sich de Saint Phalle später – mehrere Stunden, bis er das ihm gewidmete Werk mit wenigen präzisen Schüssen vollendete. Das entstandene Bild gelangte in die private Sammlung von Pontus Hultén, der es, gemeinsam mit rund 700 Werken bedeutender Künstler*innen 2005 dem Moderna Museet schenkte. Hultén begleitete Niki de Saint Phalle weit über ihre ersten Anfänge hinaus. Neben den Ausstellungen „DYLABY“ (1962) (ebenfalls mit Schießaktion) und „Hon" (1966) organisierte er auch noch in den 1990er-Jahren große Retrospektiven und beteiligte sich aktiv an ihrem Werkkatalog.

Niki de Saint Phalle, Hon en Katedral, 1966, Foto: TT, Image via aftonbladet.se

Netzwerke in der US-amerikanischen Kunstszene

Die geknüpften Kontakte in die US-amerikanische Kunstwelt führten dazu, dass de Saint Phalle im Frühjahr 1962 zu Schießaktionen in die USA eingeladen wurde. Am 4. März 1962 inszenierte sie eine Aktion in Los Angeles. Gastgeber war die Everett Ellin Gallery, wobei die Galeristin Virginia Dwan eine vermittelnde Rolle spielte. Künstlerisch wurde de Saint Phalle nun nicht nur von Jean Tinguely, sondern auch von Ed Kienholz unterstützt. Der Assemblage-Künstler, dem die SCHIRN bereits eine große Ausstellung widmete, wurde zu einem engen Freund des Paares. Als leidenschaftlicher Jäger und Waffen-Narr hatte er eine besondere Vorliebe für die „Schießbilder“. Er war auch bei der zweiten spektakulären Aktion in Kalifornien dabei.

Diese fand in den schmucken Malibu Hills statt und wurde von der Dwan Gallery gesponsert. Das Event wurde umfassend fotografiert und gefilmt. Die Filmaufzeichnung zeigt, wie Kienholz de Saint Phalle unterschiedliche Gewehre reicht oder ihr – mit aus heutiger Sicht irritierend paternalistischer Geste – mit einem Taschentuch Farbspritzer aus dem Gesicht wischt. Unter den Zuschauer*innen – es waren etwa dreißig Personen anwesend – ist allerhand Kunst- und Hollywood-Prominenz, darunter die Schauspieler*innen Jane Fonda und John Houseman, der Kurator Henry Geldzahler, das Fotomodell Peggy Moffit und ihr Mann, der Fotograf William Claxton, der bereits bei der Schießaktion in Los Angeles fotografiert hatte. Mitgebrachte Bänke und eine Picknick-Ausstattung lassen es offen, ob diese illustre Gesellschaft den Kunstgenuss oder die Abwechslung vom glamourösen Hollywood-Alltag suchte – wahrscheinlich ist beides der Fall.

Niki de Saint Phalle, Shooting Event in Malibu, 1962 © ProLitteris. Foto: William Claxton, Image via artlog.net

Niki de Saint Phalles Shooting in den Malibu Hills,  April 1962: Picknick vor dem Shooting, organisiert von Jane Fonda für John Houseman, Foto:Niki de Saint Phalle, Image via dazeddigital.com

Fotografie als Komplizin

Die Schießaktionen boten außerordentlich attraktive Film- und Fotomotive. Das beweist die beinah unüberschaubare Menge an Dokumentationsmaterial, aufgenommen von mitunter namhaften Fotograf*innen. Niki de Saint Phalle scheint der Dokumentation ihrer Aktionen keineswegs abgeneigt gewesen zu sein, im Gegenteil. Die Auswahl der Orte und Gäste und die markante Kostümierung – ab 1962 trug die Künstlerin ihren weißen, körperbetonten Schießanzug  – zeugen von einer Tendenz zur (Selbst-)Inszenierung. Ganz besonders gilt das für eine Aktion von 1963, bei der – außer mit der Kamera – wahrscheinlich überhaupt nicht geschossen wurde. Bilder zeigen die Künstlerin im Schießanzug und mit Gewehr vor Notre Dame in Paris. Neben ihr steht ein „Schießbild" auf einer Staffelei, von dem ein Rauchwölkchen aufsteigt. Was auf den ersten Blick wie die Dokumentation einer Schießaktion wirkt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine Fotomontage von Harry Shunk, der bereits für Yves Kleins berühmten „Sprung ins Leere“ (1960) verantwortlich gewesen war. Neben de Saint Phalles Freude an der Inszenierung zeigt das Bild noch einmal deutlich, dass Fotograf*innen zu ihren wichtigsten Alliierten gehörten. Erst durch deren Bilder wurden die performativen Akte, die für die Entstehung der „Tirs“ so wichtig waren, für ein breiteres Publikum und die Nachwelt sichtbar. Damit wurden Fotograf*innen gleichsam zu Koautor*innen ihrer Werke.

Niki de Saint Phalle bei der 800-Jahr-Feier von Notre-Dame in Paris mit einer Schießaktion, 1963, Foto ©Dalmas / SIPA, Werk © 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris
 Die „Übergabe“ der „Schießbilder" an das Publikum

Koautor*innenschaft war schließlich auch für die letzte Serie an „Schießbildern" zentral. 1964 nahm die Künstlerin an der von Daniel Spoerri herausgegebenen Edition MAT (=Multiplikation d’Art Transformable) teil. Diese Edition bot Werke – vor allem der Nouveaux Réalistes – als Multiples an. Das sind seriell hergestellte Kunstwerke in limitierter Auflage. De Saint Phalle schuf dafür bis zu hundert gerahmte „Tirs“. Die Künstlerin stellt die Werke damit zwar her, ihre „Realisierung“ übergab sie aber vollständig in die Hände des Publikums. Die in alle „Schießbilder“ eingeschriebene Ergebnisoffenheit wird damit noch gesteigert. Tatsächlich war der Umgang mit diesen Bildern – wenn er überhaupt dokumentiert wurde – sehr unterschiedlich. Einige Käufer*innen trauten sich scheinbar nicht zu schießen und ließen die Gemälde in ihrem ursprünglich weißen Zustand. Andere berichteten, dass es eine Herausforderung war, einen effektvollen Schuss auf das Gemälde abzugeben. 

Niki de Saint Phalle, Tir neuf trous - Edition MAT, 1964, © 2021 Niki Charitable Art Foundation, Image via gpb.org

Kollaborative Networking-Spektakel

Die „Schießbilder“ zeugen von der unter den Avantgarden der Nachkriegsjahrzehnte verbreiteten Vorstellung, dass der Entstehungsprozess integraler Bestandteil eines Kunstwerks ist. Die Vorbereitung der Werke gehörte ebenso dazu, wie ihr Beschuss und seine Dokumentation. Die „Schießbilder“, wie sie heute überliefert sind, lassen sich folglich als Relikte vergangener Performances lesen, oder als einer unter verschiedenen möglichen „Aggregatzuständen“ des Kunstwerks. Dabei verschwimmt nicht nur der Status des Werks, sondern auch die Trennung zwischen Produktion und Rezeption, Künstlerin und Publikum.

Niki de Saint Phalle, Schießaktion am 26. Juni, 1961, Image via losbuffo.com

Während die Idee oder das Konzept der „Schieß­bil­der“ Niki de Saint Phalle zuzu­schrei­ben ist, waren die meis­ten Bilder eindeu­tig Produkte koope­ra­ti­ver Prozesse. Die Kompli­zen und Kompli­zin­nen dieser Prozesse waren zu großen Teilen Künst­ler*innen und andere oft promi­nente Akteur*innen der Kunst­welt, darun­ter Gale­rist*innen, Kunst­kri­ti­ker*innen, Kura­tor*innen und nicht zuletzt Foto­graf*innen und Filme­ma­cher*innen. Es ist wohl dieser Tatsa­che geschul­det, dass sich die Kunde von den Schieß­ak­tio­nen in der Kunst­welt und darüber hinaus rasend verbrei­tete. Denn die „Schieß­bil­der“ zeugen neben der hervor­ra­gen­den Anbin­dung Niki de Saint Phal­les und Jean Tingue­lys in die Szene und ihrem Talent zur Selbst­in­sze­nie­rung schluss­end­lich auch von ihrem Händ­chen für das, was man heute „Networ­king“ nennt.

NIKI DE SAINT PHALLE

03. FEBRUAR – 21. MAI 2023

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