Von Menstruationsblut auf weißen Hosen, über kaiserliche Powerwalks bis hin zu Laufen mit Liebeskummer: Eine Ode ans Spazierengehen von Autorin Jovana Reisinger.

S. geht so gern und exzessiv spazieren, dass er seine Doktorarbeit darüber schreibt. Seit ich S. kenne, geht er durch Städte, Landschaften, Dörfer und über Grenzen, jetzt halt im Zeichen der Forschung. Als S. und ich noch gedatet haben, sagte er einmal, dass wir uns nicht verabreden müssten – wir wären so sehr füreinander bestimmt, wir würden uns sowieso zufällig begegnen. Wir sahen uns wochenlang nicht, obgleich wir in der selben Stadt lebten und dann wars auch vorbei. Die meisten Personen, mit denen ich danach zusammen war, gingen nicht gern spazieren. Einmal gab es wegen der Unlust einen Beziehungsstreit mit Krisenfolge. K. geht spazieren um ihre Gefühle greifbar zu machen, so passt sich ihr Schritttempo an ihren emotionalen Haushalt an und nicht selten rennt sie regelrecht durch die Gegend oder schlendert entsetzlich langsam und verträumt.

Allora & Calzadilla, Land Mark (Foot Prints), 2001–02 © Allora & Calzadilla / Galerie Chantal Crousel, Paris

E. war gern zu Fuß unterwegs und hatte dabei scheinbar so ein Tempo drauf, dass kaum jemand beim kaiserlichen Powerwalk mithalten konnte und dementsprechend mehrere Berichte über ihre starke Kondition verfasst wurden, die bei Hofe für Ärger sorgten. J. und ich schlenderten neulich entspannt von der After Hour hoch in das Viertel, in dem er jetzt lebt und ich zufällig zu einem Brunch eingeladen war. Die Sonne schien und es roch verheißungsvoll nach Frühling, trotzdem froren wir – nicht nur wegen unserer Müdigkeit. Auf der Brücke blieben wir kurz stehen und guckten uns den Fluss an, an dessen Ufer bereits am Vormittag die Besitzer*innen ihre Hündchen ausführten und alle irgendwie zufrieden wirkten. Aber es war auch Sonntag. Als P. mir vor kurzem einen Stich ins Herz versetzte, ging ich trotz Nieselregen spätnachts durch die Stadt, um meine Enttäuschung und Wut zu entladen. Dabei hörte ich wahrscheinlich female empowerment Rap, aber kann mich nicht mehr an den Soundtrack erinnern. Vielleicht war es auch die „Love forever schnulzig“-Playlist, aber Tränen kullerten keine, so viel ist sicher. Eventuell telefonierte ich dabei auch mit C., das haben wir uns in letzter Zeit angewöhnt und dann waren wir bestimmt beide wütend auf P., aus solidarischen Gründen.

T. erzählte gestern, dass sie nicht gerne geht, weil es sie nervt, wie die Gedanken herumschwirren und wie sie dabei die Kontrolle verliert. X. berichtete, dass sich ihr neulich ein Mann in den Weg stellte und einen rassistischen Kommentar auf sie feuerte und sie bis heute nicht weiß, ob sie gut reagiert hat. A. geht gern Händchen haltend durch die Straßen –auch mit Freund*innen und ich finde das schön und biete ihm meine immer gerne an. W. ging einmal von München nach Paris, um dem Tod eine große Geste zu machen, damit L. nicht stirbt. Darüber schrieb er dann ein Buch und meint, niemand wird je wieder so gut über’s Gehen schreiben können, denn er sei ein Genie. T. schrieb auch ständig übers Spazierengehen, ist aber schon längst tot und kann dementsprechend keine derlei größenwahnsinnigen Aussagen treffen.

Tiffany Chung, A Thousand Years Before and After, 2012, Filmstill, © Tiffany Chung

Die Promenadologie wurde von L. begründet und ist eine kulturwissenschaftliche sowie ästhetische Methode, auch Spaziergangswissenschaft genannt, und hat international viele Fans. Diesbezüglich wurden bereits einige Bücher publiziert und Kongresse abgehalten. Gut zu Fuß ist auch M., der jeden Morgen erst mal durchs Viertel geht, ehe der Tag überhaupt startet. Dabei genießt er es, stets die gleichen Leute in ihren Routinen zu treffen. Ruhelos ging N. an der Seite von G. und wusste nicht, was das jetzt zwischen den beiden sein soll. Als dann auch noch spürbar ein Schwall Menstruationsblut aus ihm herausfloss, war es für ihn schier unerträglich so im Unklaren gehalten zu werden und dabei eine weiße Hose zu tragen – dabei war die Menge an Blut in Wahrheit gar nicht so groß und die Menstruationsunterhose sehr saugfähig. G. gab ihm kurze Zeit später einen Korb und mittlerweile geht N. entspannt mit jemand anderen herum.

B. rief vor kurzem an und sagte, er hätte beim Spaziergang an mich gedacht, weil es so schön war, aber konnte den konkreten Anlass nicht benennen. Ich erzählte stattdessen davon, dass mir am gleichen Tag ein unbekannter Mann während einer solchen Unternehmung rotzfrech sagte, er wolle gerne mit mir Geschlechtsverkehr eingehen. Er ließ sich mehrere Meter nicht abschütteln, was mich in Panik versetzte. Bei P. zuhause hing ein Bild auf dem stand: „Geh halt nicht mit Gott, aber geh!“, dann ging sie selbst für immer und ein Entrümpelungsunternehmen fand das Bild sei nur noch für den Sperrmüll relevant und somit für immer verloren. Ich gehe gleich vom Büro nach Hause und kann es kaum erwarten mich hinzulegen. Ins Bett gehen ist gerade eine meiner Lieblingsbeschäftigungen.

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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