Inspiriert von Gilbert & George, die 1969 zum ersten Mal zur „Living Sculpture“ wurden: 10 Skulpturen, die erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar sind.

1. A very warm Welcome: Gilbert & George, Magazine Sculpture, 2021 

Seit ihrer ersten Begeg­nung stel­len Gilbert & George (künst­le­ri­sche) Konven­tio­nen in Frage. Während die Kunstwelt um sie herum in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren weitgehend von Pop, Minimalismus und Konzeptkunst geprägt war, entwickelten Gilbert & George eine ganz eigene Vision. Das Interessanteste waren nicht die Objekte selbst, sondern die Präsenz der beiden als „Living Sculptures“. Obwohl sie ihre Kunst in einer Vielzahl von Medien schaffen, betrachten sie alles, was sie machen, als Skulptur: Post-Skulpturen, Kohle auf Papier-Skulpturen, Trink-Skulpturen, Video-Skulpturen und Magazin-Skulpturen. Für die Leser*innen des SCHIRN MAGAZINS gibt es 2021 eine besondere Magazin-Skulptur: Zum Anschauen, Lesen, Ausdrucken, Wegwerfen, als Screensaver oder Postkarte. 

Gilbert & George, Magazine Sculpture, 2021, Courtesy of Gilbert & George
2. Verwunschener Koloss: Giambologna, Colosso Dell'Appennino, 1570er

In der märchenhaften Villa Demidoff in Pratolino bei Florenz sorgt der gigantische „Colosso dell’Appennino“ von Giambologna auch über 500 Jahre nach seiner Entstehung für Staunen. Der fast 11 Meter hohe Koloss scheint aus dem Wasser eines kleinen Sees emporzutauchen und erhebt sich steinern über den Park, der von Francesco I. de Medici in den 1570er Jahren angelegt wurde. Damals verzauberten unzählige Skulpturen und Wasserspiele, „meraviglie“ (Wunder) genannt, das Liebesnest des Großherzogs, heute ist der Appenino eines der wenigen erhaltenen und verbliebenden Kunstwerke des Parks. Dafür (ver)birgt der Koloss einige Geheimnisse und Überraschungen! Im Korpus verbergen sich zahlreiche Kammern, Wasserspiele und Grotten, die einst reich gestaltet und geschmückt waren. Das komplexe hydraulische System sorgte damals sogar dafür, dass aus den Augen des Riesen Wasser floss.

Giambologna, Gigante dell'Appenino, firenzealchemica.eu

3. Palast der Erinnerungen: Es Devlin, Memory Palace, 2019 

In der Installation „Memory Palace“ materialisiert Es Devlin Schlüsselmomente der Geschichte. Inspiriert von der antiken Mnemotechnik, Erinnerungen mit vertrauten Orten zu verknüpfen, schafft die britische Künstlerin eine 18 Meter breite, raumfüllende Skulptur. Großflächige Spiegel reflektieren das weitläufige Diorama und schaffen eine immersive Umgebung. Die eine einzigartige Perspektive auf die letzten 75.000 Jahre bietet und eine Neuinterpretation von Zeit und Raum ermöglicht. In der dreidimensionalen Geschichtskarte stellt Devlin identifizierbare Fragmente von Städten und Gebäuden dar und schafft einen persönlichen Atlas der Evolution des Denkens – so steht der heilige Feigenbaum, unter dem Siddharta zur Erleuchtung fand, neben der Athener Akropolis, und die ersten bekannten Zeichnungen der Menschheit sind ebenso verewigt wie die Stufen des schwedischen Parlaments, auf denen Greta Thunberg ihren „Skolstreijk för Klimatet“ begann. Die ausgewählten Ereignisse laden dazu ein, in die Landschaft einzutauchen und über die sich ständig verändernde Natur der menschlichen Geschichte und unseren Platz darin nachzudenken.

Es Devlin, Memory Palace, Image via pitzhanger.org

4. Eine Pyramide aus Bier: Cyprien Gaillard, The Recovery of Discovery, 2011 

Verweilen wir noch einen Moment im antiken Griechenland. Während dort vermutlich Wein ausgeschenkt wurde, geht es bei „The Recovery of Discovery“ von Cyprien Gaillard um Bier. Genauer gesagt um die Kästen der türkischen Biermarke Efes – abgeleitet von der antiken griechischen Tempelstadt Ephesos. 2011 baute Gaillard in der Ausstellungshalle der Berliner Kunst-Werke eine stufenförmige, begeh- und benutzbare Pyramide aus zusammengestellten Bierkisten mit 72.000 Flaschen, die von Besucher*innen getrunken werden konnten. Die mit der fortschreitenden Leerung einhergehende nachlassende Stabilität der Skulptur war natürlich geplant – und kann als Allegorie auf die Zerstörung historischer Monumente durch Massentourismus verstanden werden. Plötzlich werden versierte Kunstkenner*innen mit tölpelhaften Tourist*innen gleichgesetzt, mit denen erstere sonst so wenig gemeinsam haben möchten. Feuchtfröhlicher (Kunst)Genuss ist eben für alle da!

Cyprien Gaillard, Recovery of discovery, 2011, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, Image via www.artberlin.de

5. Raum im Raum: Monica Bonvicini, Passing, 2017 

Monica Bonvicini setzt sich seit Jahren mit den komplexen Beziehungen zwischen Raum und Inhalt auseinander. Mit ihrer raumgreifenden Intervention „Passing“, einem freistehenden Gerüst, blockiert sie 2017 den Eingang zum dahinterliegenden Ausstellungsraum der Berlinischen Galerie. Die Gerüstwand erinnert mit ihrer offenliegenden Konstruktionsweise an eine Bühnenkulisse und fungiert so als autonomes skulpturales Element. Durch eine Tür gelangen die Besucher*innen auf die andere Seite, die sich als Wand aus Aluminiumpaneelen präsentiert. Das silberne, leicht spiegelnde Metall interagiert mit den anderen Werken der Künstlerin und führt gleichzeitig zur Reflexion über den Raum selbst.

Monica Bonvicini, Passing, 2017, Scaffolding, troughed sheets, brackets
1000 x 800 x 200 cm, Image via monicabonvicini.net

6. Der Schachtelmann aus London: Gustav Metzgers autodestruktive Kunst 

1959 veröffentlichte Gustav Metzger, genannt Schachtelmann, sein erstes Manifest. Es propagiert Werke, „die ein Element enthalten, das innerhalb von maximal 20 Jahren automatisch zu ihrer eigenen Zerstörung führt“ und dann einfach vom Ort ihrer Entstehung entfernt und entsorgt werden. Metzger bewegte sich Zeit seines Lebens eher am Rand des Kunstbetriebes. Seine „First Public Demonstrations of Auto-Destructive Art“ an der Londoner South Bank sind trotzdem legendär. Dort bespannte er beispielsweise eine Glasscheibe mit einem Nylongewebe, das er mit einem Pinsel bearbeitete, den er – verborgen vor den Augen der Zuschauer*innen – vorher in Salzsäurelösung getaucht hatte. So löste sich das Nylon schon während der Vorführung allmählich auf. Eine dieser „Demonstrations“ erlebte übrigens Pete Townshend, Gitarrist von The Who, der, inspiriert von Metzger, fortan seine Gitarren auf der Bühne zertrümmerte.

Gustav Metzger, First Public Demonstrations of Auto-Destructive Art, Presented by the artist 2006 © Gustav Metzger, image via tate.org

 

7. Zwischen Kunst und Musik: Naama Tsabar, Work on felt, 2019 

Naama Tsabar bewegt sich in den Bereichen Skulptur und Performance und schafft Objekte, die sowohl als Kunstwerke als auch als Musikinstrumente funktionieren. Sie verwandelt nicht nur zerbrochene Gitarren, sondern auch industrielle Filzmatten in modifizierbare Saiteninstrumente. Durch das Hinzufügen von Klaviersaiten und Gitarrenstimmwirbeln erhalten die minimalen Skulpturen neue Eigenschaften, die ihrem natürlichen Charakter widersprechen. Das Aussehen der transformativen Skulpturen, die Aufrichtung oder Neigung des Filzes korrespondieren direkt mit der Tonhöhe, die sie erzeugen. Die Arbeiten fordern ein starkes körperliches Engagement, ein sich Darauf-Einlassen, was Tsabars Performances ein intensives Gefühl emotionaler Spannung verleiht. 

Naama Tsabar, Transitions #3, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2019, Foto: Marc Krause
8. Höchst explosiv: Cornelia Parker, Cold Dark Matter. An Exploded View, 1991

Cornelia Parker ist bekannt für ihre prozesshaften und monumentalen Installationen. Für ihre Arbeit „Cold Dark Matter. An Exploded View“ lässt sie 1991 einen Gartenschuppen in die Luft sprengen. Die zertrümmerten Bestandteile, verbogen und geschwärzt von der Wucht des Sprengstoffs, sammelt sie anschließend sorgfältig auf und führt sie zu einer Skulptur zusammen – als Moment der Explosion selbst, in dem alles auseinander berstet. Sie versteht die Explosion als archetypisches Bild, das uns von Kindheit an vertraut ist. Doch durch das nachträgliche, scheinbar wahllose Zusammenfügen, kommt es zu einem Moment der Verwandlung. Die Holzfragmente werden neu belebt und können in einem anderen räumlichen Kontext betrachtet werden: Kontemplation statt Entsetzen und Erinnerungen an Krieg und Katastrophen.

Cornelia Parker, Cold Dark Matter: An Exploded View, 1991, Wood, metal, plastic, ceramic, paper, textile and wire © Cornelia Parker, image via tate.org

9. Kunst im Nirgendwo: Elmgreen & Dragset, Prada Marfa, 2005

Die Installation „Prada Marfa“ des Künstlerduos Elmgreen & Dragset wurde bereits millionenfach fotografiert und ist längst zu einer Ikone geworden. Bei dem freistehenden weißen Gebäude mitten in der texanischen Wüste handelt es sich vermeintlich um ein Schaufenster der italienischen Luxusmarke Prada. Doch obwohl das Modeunternehmen Schuhe und Taschen zur Verfügung gestellt hat, lädt die versiegelte Vitrine, die sich etwa 26 Meilen nordwestlich der Stadt Marfa, Texas befindet, nicht zum Shoppen ein. Die Arbeit bezieht sich vielmehr auf den Kunstdiskurs über den White Cube und das Ready-Made, hier in die leere Weite der Wüste ausgelagert. Die skulpturale Intervention kann aber auch als Konsumkritik verstanden werden – oder aber als (un)absichtliche Stärkung der von ihr kritisierten kapitalistischen Werte. Scherzte man anfangs noch darüber, dass bloß ein paar verwunderte Cowboys am Prada-Shop gesichtet wurden, lehnten kurze Zeit später bereits Hunderte Visitenkarten am Sims des Gebäudes, mit denen die Besucher*innen bezeugen wollten „Ich war hier“.

ELMGREEN & DRAGSET: PRADA MARFA, Permanent Public Sculpture, Highway 90, Valentine, TX, Image via baustil.com 

10. Konfrontation im Alltag: Gregor Schneider. Haus u r / Totes Haus u r – 1985-heute

Gregor Schneider sammelt Räume. Seit 30 Jahren trägt er sie zusammen, baut sie auf, zerstört sie und löst sie aus ihrem Kontext. Sein Hauptwerk „Haus u r“ in der Unterheydener Straße in Mönchengladbach Rheydt – das „u r“ steht für Unterheydener Straße und Reydt – wurde 2001 als Surrogat „Totes Haus u r“ auf der Biennale von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Schneiders Räume sind Rekonstruktionen bestehender Räume, in denen die Betrachter*innen kaum die Möglichkeit haben, das Werk in seiner Gesamtheit zu sehen. Wände werden vor Wände gebaut, Fenster öffnen sich zu neuen Fenstern, Türen führen vor kahle Mauern oder Abgründe. Bisweilen drehen sich Räume, senken sich Zimmerdecken, lassen Ventilatoren Gardinen wehen. Klingt nach M.C. Eschers unmöglichen Figuren. Schneiders Räume imaginieren nichts Vorgefallenes, sie beklemmen und konfrontieren vielmehr durch das spürbare Auslöschen von Gebrauchs- und Lebensspuren. Schneider inszeniert etwas zwischen Tilgen und Bewahren, das auch die eigene Verortung in Raum und Zeit durcheinanderwirft.

Gregor Schneider Haus u r, Rheydt, from April 2015 Feature, image via artreview.com

GILBERT & GEORGE. THE GREAT EXHIBITION

Nur noch bis 5. September 2021!

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