Töne sehen und Farben schmecken: Synästhesie ist nach wie vor ein rätselhaftes neurologisches Phänomen. Immer wieder lassen sich Künstler davon inspirieren.

Wie nehmen Menschen Farben, Geräusche, Buchstaben und Zeiträume eigentlich wahr? Das lässt sich, wie zu erwarten, nicht so einfach beantworten. Synästhetikerinnen und Synästhetiker haben diesbezüglich zumindest eins gemeinsam: Ihre Welt ist sehr bunt.

Wer von Synästhesie „betroffen“ ist – wobei es sich um keine Krankheit handelt, sondern laut Neuropsychologie um eine „Normvariante der Wahrnehmung“ – sieht zum Beispiel vor dem inneren Auge Farben und Muster, wenn er Musik hört, kann Namen schmecken oder riechen, ordnet Buchstaben eine Eigenschaft oder Farbe zu und verbindet Wochentage mit einer geometrischen Form.

Etwa vier Prozent der Menschen, schätzt man, weisen eine der mindestens 73 verschiedenen Formen der Synästhesie auf, die auch vererbt werden. Bei den Synästhesien handelt es sich nicht um ein Reiz-Reaktions-Muster – die Sinneseindrücke treten gleichzeitig auf und sind nicht voneinander zu trennen. „Reizempfindung eines Sinnesorgans bei Reizung eines andern“ lautet eine offizielle Definition von Synästhesie. Die dabei entstehenden Muster und Farben werden auf einem „inneren Bildschirm“ in Stirnhöhe wahrgenommen und ändern sich im Lauf der Zeit nicht: Wer beim Ton einer Trompete einen gelben Kreis wahrnimmt, tut dies ein Leben lang.

Kandinskys Bilder sind Ergebnisse seines Farbenhörens

Ein Faszinosum, welches seit langem Literaten, Musiker und Bildende Künstlerinnen und Künstler inspiriert hat. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Beschäftigung mit der angeborenen Sinnesverknüpfung im 19. Jahrhundert, sowohl in der faktenbasierten Naturwissenschaft als auch in der künstlerischen Romantik. Längst bezeichnet „Synästhesie“ auch ein sprachliches Stilmittel, aus dem Begriffe wie „knallrot“ oder „giftgrün“ entstanden. Hundert Jahre später ist das Interesse an Synästhesie erneut aufgeflammt, es werden Tagungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst abgehalten und man versucht in Psychologie und Neurologie in die Köpfe der Synästheten hineinzuschauen.

Wassily Kandinsky, Komposition VIII, 1923, Image via WikiCommons
Wassily Kandinsky,Circles in a Circle, 1923, Image via WikiCommons

Künstler haben indessen nie aufgehört, interdisziplinär und multisensorisch zu arbeiten und sich dabei auf Synästhesie zu beziehen. Zu den bekanntesten Beispielen zählen sicherlich die Bildkompositionen von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinsky, vermutlich selbst ausgestattet mit dem „Farbenhören“. Seine abstrakten Formen und Muster ähneln den Erfahrungen vieler Synästhetiker, wenn sie mit Musik in Kontakt kommen. Auch Joan Mitchell, die mehrere Varianten der Synästhesie aufwies, ließ sich in ihren abstrakt expressionistischen Malereien von Musik inspirieren. Während Kandinsky und Mitchell die Bilder aus ihren Köpfen auf die Leinwand brachten, ging Giselher Klebe den umgekehrten Weg: Der Komponist schuf 1949-50 ein Orchesterwerk als Antwort auf das Aquarellbild „Zwitscher-Maschine“ (1922) von Paul Klee.

Welche Farbe hat die Hölle?

Mit dem Fortschreiten der technologischen Entwicklungen vermehrten sich die Möglichkeiten, synästhetische Erfahrungen auch für Nicht-Synästhetiker nachvollziehbar zu machen. Nam June Paik, Mitglied der Fluxus-Bewegung und Wegbereiter der Video-Kunst, installierte 1963 in einer Ausstellung in Wuppertal unter dem Titel „Kuba TV“ zwei Fernseher, die Bild und Ton in einen neuen Zusammenhang brachten: Auf dem einen wurden über ein Mikrofon Geräusche auf dem Bildschirm in schnell wechselnde Muster übersetzt, an den anderen war ein Tonbandgerät angeschlossen – die erzeugten Töne waren für den Betrachter sichtbar, aber nicht hörbar.

Joan Mitchell, Chicago, 1966–67 © Estate of Joan Mitchell, Image via www.joanmitchellfoundation.org

Paul Klee, Zwitscher-Maschine, 1922, Image via wikimedia.org

Auch fünfzig Jahre später scheint Bewegtbild noch immer das favorisierte Mittel, um das neurologische Phänomen zu untersuchen und künstlerisch zu verarbeiten. In dem über zehn Jahre durchgeführten Recherche-Projekt „Why is Green a Red word“ ließ die dänische Künstlerin Ditte Lyngkær Pedersen mehrere Synästhetiker von ihrer Wahrnehmung erzählen. So zeigt ihr Video „What The Hell Does Purgatory Look Like?“ eine weiße Fläche, auf der das englische Wort „Purgatory“ (Fegefeuer) in schwarzen Lettern geschrieben steht. 

In einem Voiceover liest sie Beschreibungen für Begriffe von Menschen vor, die eine Graphem-Farb-Synästhesie aufweisen – deren Buchstaben und Zahlen also untrennbar mit einer Farbe verbunden sind. Die Komplexität der Wahrnehmung von Buchstabenfolgen – vielschichtige Farbverläufe, Umrahmungen und damit verknüpfte Assoziationen – ist in der Gänze oft nur schwer in Worte zu fassen. Ähnliches wird in der Arbeit „A study of a Name“ deutlich, bei der die Künstlerin Synästhetiker bat, ihre Empfindungen als Reaktionen auf ihren Vornamen zu verbalisieren.

Weil bei Synästhetikern grundsätzlich mehrere Sinne zusammenarbeiten, vermutet man, dass sie stärker als andere Menschen dazu fähig sind, kreative Herangehensweisen zu entwickeln – und sich zum Beispiel in ihrer Umgebung auf andere Art zu orientieren. Die Künstlerin Barbara Ryan bringt dies mit ihrer Arbeit „That can’t be September – it smells like the August of 1985!“ zum Ausdruck. 

That can’t be September – it smells like the August of 1985!

Barbara Ryan

Barbara Ryan, That can’t be Septem­ber – it smells like the August of 1985!, Installationsansicht, 2012, Image via www.artlaboratory-berlin.org

Ihre Zeit in Berlin in den 1990er Jahren hat sie in einer umfangreichen Installation kartografiert, in der die Betrachter mittels Fotos, aber auch mit der Beschreibung von Gerüchen, Farben und Gefühlen die Stadt durch ihre Augen wahrnehmen können. Ähnlich partizipativ gestaltete sich die Performance „A Banquet for Ultra Bankruptcy“, welche das Künstlerduo Carl Rowe & Simon Davenport 2013 im Berliner Projektraum art laboratory durchführte. Bis zu sechs Gäste nahmen an einem gemeinsamen Dinner mit sechs Gängen teil, bei dem das Essen mit Bildern, Tönen und Gerüchen erweitert und so zu einer multisensorischen Erfahrung wurde.

Eindrü­cke von Synäs­the­ten bleiben für Außenstehende schwer nachvollziehbar

Seit Jahrhunderten beschäftigen sich Künstlerinnen und Künstler bereits mit den verschiedenen Formen der Sinneswahrnehmung. Die audio-visuellen oder haptischen Eindrücke von Synästheten für Außenstehende nachvollziehbar zu machen, bleibt aber trotz Fortschritten in der Forschung sowie in der digitalen Darstellung eine ebenso komplexe wie inspirierende Aufgabe – und wird wohl erst gelöst, wenn wir die technischen Mittel besitzen, um durch die Augen einer anderen Person auf die Welt zu blicken.

Carl Rowe & Simon Davenport, A Banquet for Ultra Bankruptcy, 2013, Foto © Tim Deussen, Image via blogspot.com

 

Carl Rowe & Simon Davenport, A Banquet for Ultra Bankruptcy, 2013, Foto © Tim Deussen, Image via blogspot.com