In the Mood for Fools
28.05.2025
9 min Lesezeit
Inspiriert von ihrer Tarotkartenlegung sinniert Olga Hohmann über die Qualitäten von Hofnarren und Clowns – und entdeckt im Künstler*innenduo EVA & ADELE ein zeitgenössisches, aber autonomeres Pendant.
„When a clown moves into a palace they don’t become a king. The palace becomes a circus.“
Internationales Sprichwort
Kritische Wahrheiten unter einem Deckmantel der Harmlosigkeit
Die erste Karte, die ich aufdecke, ist also „The Fool“. Spontan denke ich an den Begriff des Hofnarren, der kürzlich im Rahmen der Berliner Realpolitik instrumentalisiert wurde. Tatsächlich interessiert mich aber viel mehr die historische Genese nicht nur des Begriffs, sondern auch der Rolle und Funktion. „The Fool“ ist die allererste Karte im Deck. D. sagt: „Ein Hofnarr ist da, um den Hof zu unterhalten. Manchmal spricht er die kritische Wahrheit über die Leute am Hof – das ist dann besonders unterhaltsam.“
Aber: Ein Hofnarr sollte eigentlich nicht selbst König werden wollen. Nur unter dem Deckmantel der scheinbaren Harmlosigkeit ist er am Hof erwünscht – und seine Kritik wird nicht nur ins lächerliche gezogen, sondern auch von den Autoritäten vereinnahmt.
In archaischen Gesellschaften war die Figur des „Dorfnarren“ eine Art Orakel. Es war ein*e Dorfbewohner*in, welche das Gegenteil von dem sprach, was eigentlich gemeint war. Denn die so genannte „Wahrheit“ oder auch Weissagung wurde verklausuliert übermittelt. Wenn zum Beispiel ein*e Dorfbewohner*in krank war, fragte man den Dorfnarren, ob sie überleben würde. Der Narr wurde dann ans Krankenbett gebeten und führte eine Unterhaltung mit der erkrankten Person, die vermutlich von Scherzen durchzogen war. Am Ende der humorvollen Sitzung war dann klar, ob der*die entsprechende Patient*in überleben würde oder nicht – denn jeweils das Gegenteil der Nachricht, die der (traurige) Narr überbrachte, wurde wahr.
Der Dorfnarr war also derjenige in der Gemeinschaft, der immer das Gegenteil von dem tat, was eigentlich der Norm entsprach. Er sagte die Wahrheit indem er log. Er zog seine Kleidung falsch herum an und saß rückwärts auf dem Pferd. Ein Outlaw, würde man meinen.
Ich lerne auch: In archaischen Gesellschaften war „The Fool“ derjenige, der in die Asche des Lagerfeuers pustete, damit es niemals erlosch. Gleichzeitig durfte der Narr aber auch nicht zu sehr pusten, denn das Feuer sollte nicht zu hoch werden. Es durfte keine Autonomie erlangen, sollte moderat brennen. Eine Allegorie auf die gesellschaftliche Rolle des „Fools“? Oder auf die Funktion von Humor überhaupt?

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Tatsächlich müssen Clowns in gewisser Weise auch traurig sein, denn die Missgeschicke sind es, die dazu führen, dass man über sie lacht. Der Clown muss auf der Banane ausrutschen – und er muss sich dabei verletzen und danach ein bisschen humpeln (aber nicht zu sehr) – denn in seiner Misere liegt unsere Fähigkeit zur Empathie. Wir identifizieren uns mit seinem weltlichen Schicksal, mit seiner buchstäblichen Verletzlichkeit. Sie erinnert uns an uns selbst. Darin liegt das kathartische Moment. Der Clown erlöst uns von unserem Gefühl, die Einzigen zu sein, die an den Herausforderungen des Alltags scheitern. Mehr noch: Clowns geben uns das Gefühl, dass unser eigenes Scheitern im Gegensatz zu ihrem noch ein verhältnismäßig schönes ist.
Mein Psychoanalytiker hat da so einen Witz mit trauriger Pointe, den er mir immer wieder erzählt, um mir meinen eigenen (traurigen) Spiegel vorzuhalten: Ein Mann geht zum Psychoanalytiker. Er klagt über starke Traurigkeit. Der Psychoanalytiker hört ihm zu. Er schlägt ihm vor, über seine Mutter zu sprechen. Der Mann spricht über seine Mutter. Eine Woche später kommt der Mann zurück. Er klagt über noch stärkere Traurigkeit als in der Woche zuvor. Der Analytiker schlägt ihm vor, über seinen Vater zu sprechen. Der Mann spricht über seinen Vater. Eine weitere Woche später kommt der Mann zurück. Er ist nun regelrecht aufgelöst, so traurig, dass er sich nicht zu helfen weiß. Der Analytiker fordert ihn auf, über seine Schwester zu sprechen. Der Mann spricht über seine Schwester. Eine Woche später kommt der Mann zurück. Der Analytiker sieht schon, als der Mann noch im Treppenhaus steht, dass er in desolatem Zustand ist. Trotzdem macht er einen letzten Versuch und fordert ihn auf, eingehend über das Verhältnis zu seinem Bruder zu sprechen. Der Mann folgt seiner Anweisung. Der Analytiker hat einen kurzen Moment der Hoffnung. Als der Mann eine Woche später wiederkommt, hat sich sein Zustand, obwohl ohnehin schon sehr prekär, noch einmal rapide verschlechtert. Der Psychoanalytiker sieht ein, dass er versagt hat und schickt den Mann zum Psychiater, mit der Empfehlung für hochdosierte Antidepressiva. Als der Mann eine Woche später wiederkommt, ist er schon beim Hereinkommen völlig aufgelöst: Nicht einmal die starke Medizin hat geholfen. Er ist noch immer unbegreiflich traurig. Weil nichts zu helfen scheint, greift der Analytiker zur allerletzten Maßnahme, die ihm einfällt: Er schlägt dem traurigen Mann vor, zur Aufheiterung doch mal in den städtischen Zirkus zu gehen: Er habe gehört, dort gebe es einen hervorragenden Clown, der auch die Allertraurigsten unter ihnen zum Lachen bringe. „Der Clown, das bin ich“, antwortet der Analysand daraufhin.


Isn’t every fool wonderfool?
Dabei ist es in manchen Hinsichten nicht nur charmant, sondern sogar notwendig, sich ein wenig fool-ish zu verhalten, das heißt, auszurutschen, die Kontrolle zu verlieren, sich angreifbar und verletzlich zu machen. So zum Beispiel in der Liebe – oder in der Kunst. „Love is the wisdom of the fool and the folly“ sagt man. Und ich denke: Isn’t every fool wonderfool?
D.s Tarotlesung beschäftigt mich nun seit einigen Wochen – einhergehend mit der Frage, ob man Narren und Närrinnen von ihrer von der Autorität vereinnahmten Funktion befreien kann. Gibt es autonome Fools? Advokat*innen des „schönen Scheiterns“? Spontan denke ich an den Mann, der den gesamten Berlin Marathon mit einer Ananas auf dem Kopf gelaufen ist – für mich, der eigentliche Gewinner des sportlichen Wettbewerbes.
Nun aber ist eine meiner, schon seit meiner Kindheit, meist-verehrten fools gerade ganz plötzlich verstorben: Eva, eine der zwei fantastischen Hälften des Künstler*innenduos EVA & ADELE. Die beiden repräsentierten für mich immer ebenjenes Konzept von „10 Points for Passion“: Todernste, radikale Albernheit. Wie die traditionellen Hofnarren und -närinnen repräsentierten sie ebenfalls eine Art lebenslängliche Performance, die nur durch den Tod selbst unterbrochen werden kann. Anders als bei den Narren und Närrinnen gab es aber keinen „Hof“, dem sie nach dem Mund reden mussten – sie setzen sich in ihrer Nicht-Greifbarkeit und Nicht-Vergleichbarkeit durch. Die Normen und Hierarchien der Kunstwelt konterkarierten sie mit dem Slogan „Wherever we are is museum“. Sterben diese Figuren, die ganz alltäglichen, autonomen, sich-selbst-institutionalisierenden Fools in unserer Generation aus? Ich hoffe auf das Gegenteil.
