In the Mood for Fools

28.05.2025

9 min Lesezeit

Autor*in:
Olga Hohmann
Junge Frau in einem Bücherregal, nachdenklicher Blick, trägt ein schlichtes Oberteil und Halsketten.

Inspiriert von ihrer Tarotkartenlegung sinniert Olga Hohmann über die Qualitäten von Hofnarren und Clowns – und entdeckt im Künstler*innenduo EVA & ADELE ein zeitgenössisches, aber autonomeres Pendant.

„When a clown moves into a palace they don’t become a king. The palace becomes a circus.“

Internationales Sprichwort

Lorem ipsum

„Du bist ein Hofnarr“, sagt D., der mir die Tarotkarten liest – you are the fool. Er hatte mich überraschenderweise in sein Atelier eingeladen und unsere Tarot-Sitzung mit den Worten eingeleitet: „Ich lese niemals die Karten für jemanden, wenn ich danach gefragt werde. Aber ab und zu suche ich jemanden aus, für den ich die Karten lese – und heute habe ich dich ausgesucht.“ Ich fühle mich spontan geschmeichelt und bin gleichzeitig auch etwas nervös, welche angenehme oder unangenehme Nachricht die Karten mir wohl zu sagen haben werden. D. sieht für mich tatsächlich aus wie jemand, der ein Medium ist – das heißt, der im Besitz einer Wahrheit ist, die ich nicht kenne. Dabei ist er weder ungewöhnlich gekleidet noch benutzt er seine Stimme auf unerwartete oder besondere Weise. Es ist eher so, dass seine eigentlich profane Anmutung von einer Art Aura umgeben ist.

Seit er zehn Jahre alt ist übt D. diese Tätigkeit nun schon professionell – das heißt, gegen eine Entlohnung in Form von Geld – aus. Er las zuerst anderen Kindern, dann auch Erwachsenen die Karten. Er hat es von seiner Großmutter gelernt – eine oral history, eine mündlich übergebene Technik, die Tradition hat. Sie wird innerhalb der Familie weitergegeben, die Mutter hatte es von ihrer Mutter gelernt, die Großmutter wiederum von ihrer Großmutter.

Kritische Wahrheiten unter einem Deckmantel der Harmlosigkeit

Die erste Karte, die ich aufdecke, ist also „The Fool“. Spontan denke ich an den Begriff des Hofnarren, der kürzlich im Rahmen der Berliner Realpolitik instrumentalisiert wurde. Tatsächlich interessiert mich aber viel mehr die historische Genese nicht nur des Begriffs, sondern auch der Rolle und Funktion. „The Fool“ ist die allererste Karte im Deck. D. sagt: „Ein Hofnarr ist da, um den Hof zu unterhalten. Manchmal spricht er die kritische Wahrheit über die Leute am Hof – das ist dann besonders unterhaltsam.“

Aber: Ein Hofnarr sollte eigentlich nicht selbst König werden wollen. Nur unter dem Deckmantel der scheinbaren Harmlosigkeit ist er am Hof erwünscht – und seine Kritik wird nicht nur ins lächerliche gezogen, sondern auch von den Autoritäten vereinnahmt.

In archaischen Gesellschaften war die Figur des „Dorfnarren“ eine Art Orakel. Es war ein*e Dorfbewohner*in, welche das Gegenteil von dem sprach, was eigentlich gemeint war. Denn die so genannte „Wahrheit“ oder auch Weissagung wurde verklausuliert übermittelt. Wenn zum Beispiel ein*e Dorfbewohner*in krank war, fragte man den Dorfnarren, ob sie überleben würde. Der Narr wurde dann ans Krankenbett gebeten und führte eine Unterhaltung mit der erkrankten Person, die vermutlich von Scherzen durchzogen war. Am Ende der humorvollen Sitzung war dann klar, ob der*die entsprechende Patient*in überleben würde oder nicht – denn jeweils das Gegenteil der Nachricht, die der (traurige) Narr überbrachte, wurde wahr.

Der Dorfnarr war also derjenige in der Gemeinschaft, der immer das Gegenteil von dem tat, was eigentlich der Norm entsprach. Er sagte die Wahrheit indem er log. Er zog seine Kleidung falsch herum an und saß rückwärts auf dem Pferd. Ein Outlaw, würde man meinen.

Ich lerne auch: In archaischen Gesellschaften war „The Fool“ derjenige, der in die Asche des Lagerfeuers pustete, damit es niemals erlosch. Gleichzeitig durfte der Narr aber auch nicht zu sehr pusten, denn das Feuer sollte nicht zu hoch werden. Es durfte keine Autonomie erlangen, sollte moderat brennen. Eine Allegorie auf die gesellschaftliche Rolle des „Fools“? Oder auf die Funktion von Humor überhaupt?

Heinrich Vogtherr d. J.: Der Narr, um 1540 (Althochdeutsch: Dero Narren lache Jch Allenn / Denn nůr Jirñ Kolbñ thůn gefalleñ; Deutsch: Euer Narren lache ich allen, denn nur ihre Kolben (Marotte) tun gefallen.)
Paul Cézanne: Fastnacht (Pierot und Harlequin), 1888
Pushkin Museum, Moskau; Image via commons.wikimedia.org

Zwischen Melancholie und Traurigkeit

Perfiderweise haben solch kleine Abweichungen von der Norm häufig eine bestätigende Wirkung – so wie ein öffentlicher Protest nicht selten von der Regierung angeeignet und als Aushängeschild für Meinungsfreiheit benutzt wird. Ein Aufbegehren in kleinem Maße kann also leicht vereinnahmt werden. Vielleicht ist das einer der Gründe, die den modernen Clown als einen engen Verwandten des Hofnarren mit ganz ähnlichen Funktionen melancholisch stimmen – selbst, wenn er (zur Abwechslung mal) eine gute und keine schlechte Nachricht überbringt. „Don’t kill the messenger“ sagt man – aber was, wenn der Messenger selbst unter seiner Nachricht leidet?

Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Clowns traurig sind. Mag es daran liegen, dass sie die Last der Wahrheit auf ihren Schultern tragen – oder die Last, die es bedeutet, sie immer nur verklausuliert, euphemistisch auszudrücken. Oder dass sie, auch wenn sie die Wahrheit sprechen, wissen, dass diese häufig keine Konsequenzen hat.

Lorem Ipsum

Tatsächlich müssen Clowns in gewisser Weise auch traurig sein, denn die Missgeschicke sind es, die dazu führen, dass man über sie lacht. Der Clown muss auf der Banane ausrutschen – und er muss sich dabei verletzen und danach ein bisschen humpeln (aber nicht zu sehr) – denn in seiner Misere liegt unsere Fähigkeit zur Empathie. Wir identifizieren uns mit seinem weltlichen Schicksal, mit seiner buchstäblichen Verletzlichkeit. Sie erinnert uns an uns selbst. Darin liegt das kathartische Moment. Der Clown erlöst uns von unserem Gefühl, die Einzigen zu sein, die an den Herausforderungen des Alltags scheitern. Mehr noch: Clowns geben uns das Gefühl, dass unser eigenes Scheitern im Gegensatz zu ihrem noch ein verhältnismäßig schönes ist.

Mein Psychoanalytiker hat da so einen Witz mit trauriger Pointe, den er mir immer wieder erzählt, um mir meinen eigenen (traurigen) Spiegel vorzuhalten: Ein Mann geht zum Psychoanalytiker. Er klagt über starke Traurigkeit. Der Psychoanalytiker hört ihm zu. Er schlägt ihm vor, über seine Mutter zu sprechen. Der Mann spricht über seine Mutter. Eine Woche später kommt der Mann zurück. Er klagt über noch stärkere Traurigkeit als in der Woche zuvor. Der Analytiker schlägt ihm vor, über seinen Vater zu sprechen. Der Mann spricht über seinen Vater. Eine weitere Woche später kommt der Mann zurück. Er ist nun regelrecht aufgelöst, so traurig, dass er sich nicht zu helfen weiß. Der Analytiker fordert ihn auf, über seine Schwester zu sprechen. Der Mann spricht über seine Schwester. Eine Woche später kommt der Mann zurück. Der Analytiker sieht schon, als der Mann noch im Treppenhaus steht, dass er in desolatem Zustand ist. Trotzdem macht er einen letzten Versuch und fordert ihn auf, eingehend über das Verhältnis zu seinem Bruder zu sprechen. Der Mann folgt seiner Anweisung. Der Analytiker hat einen kurzen Moment der Hoffnung. Als der Mann eine Woche später wiederkommt, hat sich sein Zustand, obwohl ohnehin schon sehr prekär, noch einmal rapide verschlechtert. Der Psychoanalytiker sieht ein, dass er versagt hat und schickt den Mann zum Psychiater, mit der Empfehlung für hochdosierte Antidepressiva. Als der Mann eine Woche später wiederkommt, ist er schon beim Hereinkommen völlig aufgelöst: Nicht einmal die starke Medizin hat geholfen. Er ist noch immer unbegreiflich traurig. Weil nichts zu helfen scheint, greift der Analytiker zur allerletzten Maßnahme, die ihm einfällt: Er schlägt dem traurigen Mann vor, zur Aufheiterung doch mal in den städtischen Zirkus zu gehen: Er habe gehört, dort gebe es einen hervorragenden Clown, der auch die Allertraurigsten unter ihnen zum Lachen bringe. „Der Clown, das bin ich“, antwortet der Analysand daraufhin.

Oleg Popow mit dem Russischen Staatszirkus in Worms, 2009
Ein Clown liegt auf einer Liege, während jemand in einem Sessel notiert. Bunte Farben und moderne Einrichtung sind sichtbar.
© Eva Revolver

Isn’t every fool wonderfool?

Dabei ist es in manchen Hinsichten nicht nur charmant, sondern sogar notwendig, sich ein wenig fool-ish zu verhalten, das heißt, auszurutschen, die Kontrolle zu verlieren, sich angreifbar und verletzlich zu machen. So zum Beispiel in der Liebe – oder in der Kunst. „Love is the wisdom of the fool and the folly“ sagt man. Und ich denke: Isn’t every fool wonderfool?

D.s Tarotlesung beschäftigt mich nun seit einigen Wochen – einhergehend mit der Frage, ob man Narren und Närrinnen von ihrer von der Autorität vereinnahmten Funktion befreien kann. Gibt es autonome Fools? Advokat*innen des „schönen Scheiterns“? Spontan denke ich an den Mann, der den gesamten Berlin Marathon mit einer Ananas auf dem Kopf gelaufen ist – für mich, der eigentliche Gewinner des sportlichen Wettbewerbes.

Nun aber ist eine meiner, schon seit meiner Kindheit, meist-verehrten fools gerade ganz plötzlich verstorben: Eva, eine der zwei fantastischen Hälften des Künstler*innenduos EVA & ADELE. Die beiden repräsentierten für mich immer ebenjenes Konzept von „10 Points for Passion“: Todernste, radikale Albernheit. Wie die traditionellen Hofnarren und -närinnen repräsentierten sie ebenfalls eine Art lebenslängliche Performance, die nur durch den Tod selbst unterbrochen werden kann. Anders als bei den Narren und Närrinnen gab es aber keinen „Hof“, dem sie nach dem Mund reden mussten – sie setzen sich in ihrer Nicht-Greifbarkeit und Nicht-Vergleichbarkeit durch. Die Normen und Hierarchien der Kunstwelt konterkarierten sie mit dem Slogan „Wherever we are is museum“. Sterben diese Figuren, die ganz alltäglichen, autonomen, sich-selbst-institutionalisierenden Fools in unserer Generation aus? Ich hoffe auf das Gegenteil.

EVA & ADELE (links: Adele, rechts: Eva)
Bild: www.imago-images.de; Image via watson.ch
EVA & ADELE
© DR; Image via lepoint.fr
EVA & ADELE bei einer Aktion für die Erhaltung des Stadtbads Prenzlauer Berg, Berlin, 1990
Bild: www.imago-images.de; Image via watson.ch

In the Mood for

In dieser Reihe schreiben wechselnde Autor*innen über ein Thema ihrer Wahl, das ihnen aktuell nicht mehr aus dem Kopf geht. Die Prämisse? Es hätte den Monat aus ihrer ganz persönlichen Sicht erheblich verbessert. Die Themen und Perspektiven sind dabei so vielfältig wie unsere persönlichen Cravings.