Helga Fanderl
© Inkritt Störkel



About Time. Mit Helga Fanderl

10.06.2025

10 min Lesezeit

Helga Fanderl
Eine Frau in einem bunten Kleid arbeitet an einem Filmprojektor, umgeben von Filmrollen und Ausrüstung.

Kunst, Zeichnung, Film? Helga Fanderl hat sich eine ganz eigene Arbeitsweise geschaffen, die weder an den White Cube noch ans Kino gebunden ist. Im Interview spricht sie über das Direct Editing und verrät, inwiefern ihre Arbeit mit Filmmaterial Ähnlichkeiten zum Zeichnen aufweist.

Lorem Ipsum

1987 begann Helga Fanderl ihr Studium an der Städelschule bei Peter Kubelka und fühlte sich mit 40 Jahren eigentlich zu alt dafür. Doch sie fand einen visuellen Zugang zur Welt, der anhält: Inzwischen sind über 1000 Filmarbeiten entstanden, jede wenige Minuten lang, die Fanderl in immer wieder wechselnden Programmen zusammenstellt und präsentiert. Das Filmmaterial ist ihr Medium, aber ihren Zugang zum Bild wird die Künstlerin im Gespräch als ähnlich zum Zeichnen beschreiben. Gerade ist Helga Fanderl aus Nordamerika und Kanada zurückgekommen, wo sie ihre Arbeiten an ganz unterschiedlichen Orten präsentiert hat: einem Experimentalfilmfestival in Ann Arbor, im Arbeitsraum eines Künstler*innen-Kollektivs in Montréal, an der Universität in Boulder und in den legendären Anthology Film Archives von Jonas Mekas.

Outdoor-Kino auf schneebedecktem Gelände mit Zuschauern, einem Projektor und nebligem Hintergrund.
Film im Schnee
© Lena Prehal

Liebe Frau Fanderl, die Projektion, der Raum, in dem Ihre Filme zu sehen sind, und das Programmmachen – heute würde man wohl „Kuratieren“ sagen – sind ein elementarer Teil Ihrer Arbeit. Was passiert da in dem Moment, wenn Ihre Filmarbeiten vor Publikum aufgeführt werden?

Helga Fanderl

Erst einmal werden sie ja immer von mir aufgeführt – das hängt mit dem kleinen Filmformat zusammen, das mir wie ein Pinsel oder ein Bleistift die Freiheit gibt, so zu arbeiten, wie ich arbeiten will. Dadurch, dass es kein Kinoformat ist, habe ich die Praxis entwickelt – sozusagen aus der Not, oder aus der Bedingung des Mediums heraus -, dass ich die Filme selbst vorführe. Und zwar immer aus dem Zuschauerraum. Die Lichtstärke der Super 8-Projektoren war ja für kleine Räume bestimmt, aus der Vorführkabine wäre der Abstand zu groß.

Heute wird überall digital gestreamt. Selbst im kleinsten Kino gibt es digitale Projektionen und riesige Leinwände. Film hat eine ganz andere Anmutung. Von den Farben, vom Rhythmus, vom filmischen Bild her. Ich muss also immer erst einmal vor Ort ausprobieren, wie in diesem speziellen Raum ein Aufbau aussehen kann, um die bestmögliche Projektionssituation zu schaffen. Der Vorteil ist, dass die Zuschauer so wirklich mit dem Medium konfrontiert sind. Nicht wie dieses nicht wahrnehmbare Gerät in der Kabine, das projiziert – ganz abgesehen vom Digitalen, numerische Abfolgen, Nullen und Einsen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Der Film aber ist ein eingeschriebenes Lichtereignis. Ein reales Ereignis, das auf einem Träger stattfindet. Die Präsenz des Projektors, die Präsenz der Person, die vorführt und so weiter: Das wird quasi eine Art Live-Event.

Frau mit Brille und buntem Pullover hält einen langen schwarzen Faden in der Hand, hinter ihr sind Gerätschaften.
Helga Fanderl
© Ériver Hijano
Eine Person steht neben einem Tisch mit einem Stuhl und Projektor in einem Raum mit grauen Wänden.
Mal Seh’n Kino
© Karl Dietz

Da ergibt sich eine Form der Synchronisierung, von zeitlicher Bindung oder Konzentration, die mit digitalen Endgeräten überhaupt nicht mehr vorhanden ist.

Helga Fanderl

Ja, genau. Heute empfinde ich das auch als eine sehr gute Sache. Und dass sich das so entwickelt hat, das war ja wirklich nur dem Medium gedankt. Inzwischen merke ich, dass gerade auch junge Menschen, die ja nur mit digitalen Geräten aufgewachsen sind, total angesprochen werden von dieser Präsenz. Geradezu berührt. Ich fange in meinen Filmen ja immer den Moment ein – eigentlich paradox. In der filmischen Wiederholung wird dieser Moment aber wieder neu gegenwärtig.

Ursprünglich haben Sie Germanistik und Romanistik unter anderem in Frankfurt studiert, schließlich aber entdeckt, dass nicht Sprache, sondern der Film Ihr Medium ist. Wie kam das?

Helga Fanderl

Das war keine schnelle Sache. Angefangen hat das mit einem Workshop im Künstlerhaus Frankfurt – „Super 8 als künstlerisches Medium“. Ich hatte allerdings gar nicht wegen des Titels teilgenommen, sondern um einem Freund zu helfen, überhaupt eine zahlende Teilnehmerin mehr notieren zu können. Man konnte damals noch an einem Tag Film aufnehmen ,zum Labor bringen und entwickeln lassen. Dort bin ich erstmals mit einer Filmsprache in Kontakt gekommen, die weder dokumentarisch noch narrativ war. Am Ende des Workshops bin ich dann gerne mit der Kamera rausgegangen und habe gefilmt. Es hat aber gedauert, bis ich eine Filmrolle zurückbekam und dachte: Ja, da ist mir wirklich ein Stück Poesie gelungen – Poesie im Sinne einer bildnerischen Sprache. Da hat mein Herz geklopft. Mein damaliger Freund, ein bildender Künstler, fand das auch gleich gut. Ich habe weitergemacht, war aber noch lange nicht so weit, Film als mein Medium zu betrachten.

Eine Menschenmenge im Museum, eine Hand mit Kamera, während im Hintergrund Kunstwerke zu sehen sind.
Mona Lisa
© Helga Fanderl
Abstrakte Wasserreflexionen in warmen Farben und weichen Lichtern schaffen eine malerische Atmosphäre.
Kurze Sequenz Spiegelung im Kanal
© Helga Fanderl
Bild eines Tierkopfes in einem blutigen Umfeld auf einem karierten Boden.
Opfer
© Helga Fanderl

1987 sind Sie dann an die Städelschule zu Peter Kubelka, dem österreichischen Filmemacher und Künstler, gewechselt.

Helga Fanderl

Bekannte haben mir empfohlen, doch einmal in die Filmklasse von Peter Kubelka zu gehen. Das hat mich aber erst abgeschreckt, weil er recht streng mit 16 Millimeter arbeitete. Ich war ja gerade sehr glücklich mit dem Super 8-Format, eine ganz andere Arbeitsweise. Irgendwann habe ich mich getraut, zu fragen, ob ich mal als informeller Gast teilnehmen dürfte. „Das dürfen Sie,“ sagte er, „aber unter einer Bedingung: Sie müssen auch mal etwas zeigen.“ Damals war ich schon 40 Jahre alt. Inmitten junger Studenten, es war eigentlich nicht mein Platz.
Irgendwann habe ich dann Arbeiten gezeigt, allerdings nicht die erste, „See“, die mir so viel bedeutete. Das traute ich mich noch nicht. „Sie haben ein filmisches Auge“, sagte Kubelka, das war natürlich toll. Da habe ich begriffen, wie gut es ist, mit jemandem zu arbeiten, der so bewusst mit dem Medium Film umgeht wie er. Ich durfte das nächste Semester wiederkommen. Da habe ich dann schließlich den Film gezeigt, der mir so am Herzen lag. Er bot mir an, seine Studentin zu werden. Mir war der informelle Status als Gasthörerin eigentlich ganz recht, ich unterrichtete ja noch mit halber Stelle. Aber peu à peu bin ich dann schließlich Studentin geworden, war ein Jahr als Austauschstudentin in New York, und dann war klar, das ist jetzt meine künstlerische Arbeit.

Person mit roter Mütze filmt ein Pferd im Schnee, umgeben von einer winterlichen Landschaft.
Helga Fanderl
© Kirsten Jepp

Seitdem haben Sie insgesamt über 1000 Filme angefertigt, von „Aaron im Zug“ bis „Zora schaukelt“. Wie kann man sich Ihre Arbeitsweise vorstellen: Haben Sie Ihre Kamera überall dabei? Überlegen Sie vorher, wo es etwas Interessantes zu sehen geben könnte?

Helga Fanderl

Das kann ich ja nur hoffen, nicht wissen. Überhaupt habe ich erst mit dem In die Welt Gehen mit der Kamera entdeckt, dass ich eine sehr intensive, visuelle Beziehung zur Welt habe. Ich bin einfach raus – völlig offen. Natürlich in der Hoffnung, dass mich etwas anspricht. Aber nicht garantiert. Diese Haltung, offen zu sein für eine Begegnung, ist immer noch das Herz meiner Arbeit. Dazu gehört, dass mich etwas packt oder überrascht – dass es nicht schon eine Vor-Vorstellung gibt. In dem Moment nehme ich sofort die Kamera, schaue durch den kleinen Sucher, und sehe ein Bild. Dann muss ich mich fragen: Eignet sich das für einen Film, oder ist das nur ein Bild? Kann das ein Stück Film, eine Melodie, eine Dauer werden? Sei es ein Lichteffekt, ein Schatten, ein Geschehen: Was ist es, und wie will ich das in ein Stück Film verwandeln? Also ich reagiere auf etwas, das sich mir bietet, und frage mich: Riskiere ich es, das jetzt zu filmen. Bei mir entsteht der Film ja ganz im Kopf, in der inneren Vision, und in der Arbeit mit der Kamera. Ein Zustand von höchster Konzentration, in dem Entscheidung, Auswahl der Stilmittel und Gefühl zusammenkommen. So ein bisschen Zen-mäßig.

Frau mit Kopftuch hält eine Pflanze und liest ein rotes Blatt Papier. Der Hintergrund ist verschwommen.
Palmsonntag
© Helga Fanderl
Lichtpunkte strahlen in einem dunklen, unscharfen Hintergrund und schaffen eine stimmungsvolle, geheimnisvolle Atmosphäre.
Abendglitzern
© Helga Fanderl

Was hat Sie zuletzt so gepackt, dass Sie einen Film daraus machen mussten?

Helga Fanderl

Ich erzähle mal vom vorletzten: Ich war in Montréal und ging auf den Balkon meiner Gastgeberin. Es wehte ein ganz starker Wind, der durch die aufgehängte Wäsche zog. Viele unterschiedliche Stoffe und Farben, die Schichtungen der Wäschestücke, die sich immer wieder neu formierten. Das war eine gute filmische Situation.

Sie praktizieren eine Form von Direct Editing: der Film wird nicht im Nachhinein geschnitten, durch Musik oder Off-Kommentar unterlegt, sondern ausschließlich in der Kamera selbst editiert. War das eine bewusste Entscheidung, oder hat sich diese Arbeitsweise praktisch ergeben?

Helga Fanderl

Ich denke, das hat sich ergeben und ich habe es dann akzeptiert. Und schätzen gelernt. Als ich angefangen habe, hatte ich sowieso keine Ahnung, was genau ich da tue – und habe deshalb direkt in der Kamera geschnitten. Aber das war noch ohne eigene Vision. Nach und nach habe ich das dann verstanden. Kubelka hat das zum Glück früh gesehen und mir einen guten Rat gegeben: Üben Sie doch auch mal ohne Film, um mit dem Instrument vertraut zu sein. Damit ich es im entscheidenden Augenblick richtig nutzen kann. Ich habe in meiner Arbeit keine vorgefasste, stilistische Vorstellung. Aber natürlich gibt es einen Wunsch, das Bild, das ich sehe, zu gestalten. Das findet jedes Mal in dem Moment des Filmens selbst statt.
Ich habe hiervon ausgehend die Praxis entwickelt, dass ich meine Filme nicht nach Novität aufführe, sondern Beziehungen zwischen den wechselnden Arbeiten zeige. Das alles hat sich aus der Logik des Erkennens, des Verstehens meines Mediums ergeben. Nicht konzeptuell.

Mikroskopische Aufnahme von Kristallen auf dunklem Hintergrund mit einem großen, glitzernden Kristall in der Mitte.
Eisschollen
© Helga Fanderl
Eine Person fotografiert eine Gruppe Tauben auf einem Pflaster vor einem historischen Gebäude.
Helga Fanderl
© Maria Pasel

Gerade durch das Zusammenstellen in immer wieder wechselnden Programmen entheben Sie Ihre einzelnen Filme komplett einer zeitlichen Verortung. Spielt Nostalgie überhaupt eine Rolle – ob des Materials oder der Aufnahmen, die Sie in den letzten knapp 40 Jahren geschaffen haben?

Helga Fanderl

Naja, natürlich hat Super 8 diese Konnotation von Familienfilm und so weiter. Ich selbst hatte diese Erfahrung aber nicht, habe auch nie ein nostalgisches Verhältnis zu diesem Material gehabt. Es war eben eine Möglichkeit, mit der man arbeiten kann, wie der Bleistift – der ja auch nicht altmodisch ist, obwohl es ihn schon lange gibt. Für mich war das eine Neuentdeckung, ein immer wieder neuer künstlerischer Zugang. Vergleiche hinken. Aber für mich hat es etwas von einer Zeichnung: Dieser Moment der Übertragung der Wahrnehmung eines Gegenstands auf die Art, wie man ihn fasst und darstellt, wie die Formgebung im Hier und Jetzt stattfindet. Ich würde sagen, das ist meine künstlerische Praxis.

Das Zusammenstellen des Filmprogramms ist dann also eine weitere Form, dem Bild eine immer wieder wechselnde Gestalt im Moment zu geben. Damit sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs: „Ich komme überall hin, wo man mich einlädt!“, sagten Sie mal vor einigen Jahren – gilt dieser Satz noch?

Helga Fanderl

Ja, der gilt noch! Wenn wir einen guten Raum finden, einen Termin und einen Projektor, gern.

Eine Frau in einem bunten Kleid arbeitet an einem Filmprojektor, umgeben von Filmrollen und Ausrüstung.
Helga Fanderl
© Ériver Hijano
Kinder schwingen fröhlich auf einer grünen Schaukel im Park, umgeben von Bäumen und einer schönen Atmosphäre.
Schaukeln, 2022
© Helga Fanderl
Vogel-Silhouetten hinter einem kunstvollen, geschwungenen Gitter im Schwarz-Weiß-Stil.
Voliere
© Helga Fanderl