Zwischen Ding und Wesen: Im Dezember-DOUBLE FEATURE beobachtet der Künstler Paul Spengemann mit der Kamera eine Kreatur aus einer Zwischenwelt.

Was genau unterscheidet ein Lebewesen von einem Ding? Dass es aus Zellen besteht, die von der Außenwelt durch Biomembranen abgetrennt sind? Die Fähigkeit zur Selbstreproduktion? Stoffwechsel und genetische Variabilität? Intelligenz? Man kann gerne exklusiver (Bewusstsein!) oder inklusiver (ein Wesen, das sich irgendwie bewegt) werden und landet schließlich unversehens bei Fragen wie jenen, ob Viren Lebewesen sind oder künstliche Intelligenzen jemals solche sein können.

Über Fähigkeiten, welcher Art auch immer, ist damit indes noch überhaupt nichts gesagt: Dass etwas Hochkomplexes wie ein Roboter im wahrsten Sinne des Wortes doch noch meilenweit hinter so etwas Unscheinbarem wie einer Stabheuschrecke hinterherhinkt, zeigt beispielsweise die Arbeitsgruppe Biologische Kybernetik in Bielefeld. Die Forscher analysieren akribisch die trittsichere wie galante Fortbewegungsweise des Insekts und hoffen, die Funktionsprinzipien auf die Bewegungsabläufe der Maschine übertragen zu können. In Paul Spengemanns „Walking Stick“ bekommt der Zuschauer nun eine Stabheuschrecke präsentiert –  oder doch eher einen Roboter?

13 Äste an der Zahl

Zu Beginn sind in Spengemanns Arbeit lediglich ein sonnendurchflutetes Zimmer und einige Pflanzen zu sehen. Raschelt da etwas im Geäst? Es folgt eine subjektive Kamerafahrt hindurch die Verästelungen der Pflanze, ohne dass man genau weiß, welche Perspektive da eigentlich genau eingenommen wird. Schlussendlich scheint die Kamera unterhalb der Heizung im Zimmer etwas ausgemacht zu haben, behutsam zoomt sie immer näher und macht schließlich eine Stabheuschrecke ausfindig. Diese verharrt zunächst wie ertappt still, klettert sodann aber unternehmungslustig auf die Linse der Kamera. Spätestens hier wird deutlich, dass es sich nicht um eine „echte“ Stabheuschrecke handelt.

Paul Spengemann, Walking Stick, Filmstill, 2017

Die Beine sind wie von unsichtbarer Hand am Rumpf gehalten, ein Gesicht oder einen Fühler hat das Wesen nicht. Spengemann hat die einzelnen Bestandteile der Heuschrecke der Pflanze in seinem Zimmer entnommen, 13 Äste an der Zahl, und diesen toten Teilen des Lebewesens Pflanze digital erneut Leben eingehaucht. Gleich den unzähligen YouTube-Amateur-Tierfilmern versucht die Kamera immer wieder, das tote und doch quicklebendige Wesen einzufangen, bei Tag und bei Nacht, samt lauten Kamera-Zoomgeräuschen auf der Tonspur, sowie den Ächz- und Krächzlauten der Wohnung.

Das Universum, die eigenen vier Wände

„Walking Stick“ könnte man als Formstudie eines Filmgenres, namentlich des (Amateur-) Naturdokumentarfilmes, sehen. Allein: Natur und Dokumentation kommen hier überhaupt nicht vor. Die von Spengemann digital zum Leben erweckten toten Äste mutieren zum doppeldeutigen titelgebenden „walking stick“ im Sinne eines Spazierstockes und durchwandern sorgfältig geplant und programmiert das gesetzte Universum, die eigenen vier Wände.

In der Arbeit fällt der immer wieder in der Umgebung untertauchende Protagonist einmal in Slow-Motion auf den Dielenboden und führt dort eine Buchstaben-Choreographie auf: „Oh dear“ formt die Stabheuschrecke, die im Tierreich der Ordnung der Gespensterschrecken zugeteilt wird, mit ihrem Körper. Wird sich hier ein Wesen seiner Dinghaftigkeit bewusst oder eher ein Ding seiner Wesenhaftigkeit? Am Ende ist das Tier von der Kamera nicht mehr zu finden und der Blick fällt auf den wiederum hölzernen Schreibtisch, während das Ticken einer Uhr immer lauter wird.

Das ganze normale Leben

Das eigene Universum zeigen, und vielleicht gar das anderer, begann auch beim israelischen Filmemacher David Perlov (1930-2003) im eigenen Wohnzimmer. „Yoman“ (zu engl. „Diary“) ist eine Art Tagebuch, in dem Perlov zunächst den Zeitraum von 1973 bis 1983 filmisch dokumentierte, das in weiteren Fortsetzungen noch bis 2002 fortgeführt wurde. Der Regisseur erklingt zu Beginn selbst auf der Tonspur: “I want to start filming, by myself and for myself. Professional cinema does no longer attract me. To look for something else. I want to approach the everyday. Above all in anonymity.” Perlov startet in der eigenen Wohnung: filmt seine Familie, filmt aus dem Fenster heraus hinaus in die Stadt, das ganze normale Leben. Stetig kommentiert er das Bild, erzählt lakonisch, dass er sich von nun an entscheiden müsse, ob er die Suppe filmen oder lieber selbst essen wolle. Er hadert mit seiner herausgenommenen Position, begibt sich mit der Kamera schließlich doch in die Welt hinaus.

Paul Spengemann, Walking Stick, Filmstill, 2017

Insgesamt 330 Minuten Laufzeit umfasst das Filmtagebuch der Jahre 1973 bis 1983. Eingerahmt wird es durch zwei kriegerische Konflikte: den Jom-Kippur-Krieg 1973 und den Libanon-Krieg 1982. So sehr Perlov auch das Private, Ordinäre und Alltägliche in den Fokus rückt, dem Krieg ist nicht zu entkommen, er dringt in den Alltag ein und wird zum Alltag. Via Fernsehen ragt er in die Wohnzimmer, und Perlov hält das Fenster zur Welt mit seiner Kamera im Wohnzimmer fest.

Gleichzeitig arbeitet der Filmemacher seine eigene Geschichte auf, begleitet seine Töchter beim Heranwachsen, trifft auf Claude Lanzmann und Klaus Kinski, beobachtet den Alltag in Tel Aviv, reist nach Paris, wo er lange Zeit lebte, nach London und schließlich nach Brasilien, seinem Geburtsland. „Yoman“ ist ein erstaunliches Filmwerk, in Länge wie in Intensität, in der Spontanität der Schnappschüsse wie in der einordnenden und überlegten Kommentarspur. Perlov porträtiert im Kleinen das eigene Leben, privat wie auch politisch, und erschafft so zugleich eine Zeitgeschichte der krisengeschüttelten Demokratie im Nahen Osten.

David Perlov, Yoman, Image via filmfesthamburg.de