Der Künstler James Gregory Atkinson lässt in seiner Videoarbeit „The Day I Stopped Kissing My Father” einen schwarzen Hahn durch die große Halle der Detroit Public Library laufen. Warum, erklärt er im Gespräch mit Autorin Mearg Negusse und Künstlerin und Musikerin Ahya Simone.

Mearg Negusse Ihr habt erstmals 2019 für „The Day I Stop Kissing My Father“ in der Detroit Public Library zusammengearbeitet. Ahya, du hast in diesem monumentalen Gebäude, das allein durch seine Architektur, Wandmalereien, Bücher etc. die Geschichte der Stadt erzählt und das – zumindest oberflächlich gesehen – sehr weiß zu sein scheint, ganz bezaubernd einen deiner Songs auf der Harfe vorgetragen. Obwohl deine Aufführung einmalig war, wurde sie durch die Aufzeichnungen von James festgehalten. Wie denkt ihr beide heute, drei Jahre später, über dieses Projekt?

Ahya Simone Es ist interessant, wenn ich an Orte zurückkehre, an denen die Darstellungen dessen, was als schöne Kunst gilt, immer weiße Menschen zeigt. Und, was mich wirklich erschüttert, ist, dass diese Orte höchstwahrscheinlich von Schwarzen Menschen gebaut wurden, die im Dienst von weißen Menschen standen. Trotzdem überkommt mich ein Gefühl der Nostalgie, weil ich während meiner High-School-Zeit fast jeden Tag in diese Bibliothek gegangen bin. Sie war ein wichtiger Teil meiner Erziehung und hat meine Erfahrung mit Autorität geprägt und was es bedeutet, an einem Ort wie einer Bibliothek Schwarz zu sein.

James Gregory Atkinson Interessant was du da sagst, denn ich fand den Ort auch sehr befremdlich, obwohl die öffentliche Bibliothek viele Schwarze Mitarbeiter*innen hat und es außerdem außerschulische Projekte und freie Mittagessen gibt. Aber das Gebäude und diese Wandmalerei sind eigentlich fast schon faschistisch, daher war dieses Projekt für mich auch als Kritik an einem ausschließenden System der Repräsentation angelegt. Und wenn du jetzt über Autorität und deine Erziehung sprichst, dann frage ich mich: Welche Form der Autorität soll eigentlich weitergegeben werden? Welches Wissen soll weitergegeben werden? Lesen in der Tradition Schwarzer Schwuler ist immer von einem Misstrauen gegenüber dem Diskurs geprägt, eine schmückende Geste, um Fehler und Wahrheiten offenzulegen. Und genau das haben wir in der Bibliothek gemacht: Wir haben gelesen, Fragen gestellt. Wir dekonstruieren die Binarität des so genannten „Andersseins“, der die diskursive Entfremdung und Dominanz kennzeichnet.

Welche Form der Autorität sollte eigentlich weitergegeben werden? Welches Wissen soll weitergegeben werden?

James Gregory Atkinson
James Gregory Atkinson, The Day I Stopped Kissing my Father, 2019, Filmstill, © James Gregory Atkinson

THE DAY I STOPPED KISSING MY FATHER

Teaser zu James Gregory Atkinsons Videoarbeit

AS Ich war immer pessimistisch angesichts der Strukturen, die in Detroit öffentlich finanziert werden. Wir reden hier schließlich von einer Stadt, deren Regierung mit Investoren unter einer Decke steckt, um die Stadt zu kaufen und zu gentrifizieren und sie zu einer unternehmerischen Spielwiese für reiche, wohlhabende weiße Leute aus New York oder  L.A.  –  aus der ganzen Welt – zu machen, um Detroit besser zu machen, um Detroit zurückzubringen. Da diese Institutionen von der Regierung verwaltet werden, darf man nicht vergessen, dass es sich um öffentliche Einrichtungen handelt und deshalb gibt es dort auch viele arme, obdachlose oder wohnungslose Menschen, denen wir jeden Tag begegnen. Eine Sache, die ich in Detroit, aber auch im ganzen Land über das Wohnungswesen gelernt habe, ist, dass Obdachlose im öffentlichen Raum überwacht werden. Es sind die Menschen, die wir  kollektiv als Land sanktioniert haben, von denen wir meinen, dass sie beobachtet werden müssen.

JGA Deshalb war es mir wichtig, die Überwachungskameras zu dokumentieren, die in der ganzen Adam Strohm Halle verteilt sind. Der große schwarze Hahn, der entfremdet durch diesen Raum läuft, ist gar nicht so groß im Nachhinein, weil er in dieser riesigen totalitären Architektur von allen Seiten überwacht wird. Umstellt von Identitäten, die (wir) niemals für uns in Anspruch nehmen wollten. Historisch gesehen wurde der Schwarze Körper übersexualiert und aufgrund eines weißen Minderwertigkeitskomplexes zu einem übermenschlichen und starken Körper gemacht und durch die Kontrolle dieses Narrativs der „Anderen“, aus der Perspektive der Mehrheit, werden die Machtstrukturen aufrechterhalten.

James Gregory Atkinson, The Day I Stopped Kissing my Father, 2019, Filmstill, © James Gregory Atkinson
James Gregory Atkinson, The Day I Stopped Kissing my Father, 2019, Filmstill, © James Gregory Atkinson

AS Ja genau und diese Wandmalereien beobachten, das Weißsein beobachtet unentwegt, es überwacht und zwingt auf diese Weise jedem seine Ideologie auf. Der Film selbst ist – wie auch der schwarze Hahn, der den kolonialen Wandmalereien und diesen Überwachungskameras gegenübergestellt ist – sehr symbolisch. Und was ich jetzt auch besonders aufschlussreich finde, ist die Frage, was es eigentlich bedeutet, Schwarz, queer und trans zu sein in einem Raum wie diesem, in dem das Weiße sich durchsetzen will, sich als die Autorität aufzwingt, die überwacht und kontrolliert. Ich habe das Gefühl, das Schwarzsein, Transidentität, Queerness oder Genderfluid-Sein dazu dienen, frei zu sein und nicht überwacht, nicht erzwungen werden müssen. Es muss einfach so akzeptiert werden wie es ist und es braucht Freiraum sich Weiterentwickeln zu können. Ich denke, dass wir als Schwarze, queere, genderfluide Trans-Personen dem wirklich entgegengesetzt sind.

JGA Das war sozusagen die Idee, deinen Körper, unsere Körper, in diesen Raum zubringen, um diese typische autoritäre Form der Wissensproduktion zu hinterfragen. Und das ist auch der Grund warum ich dein Harfenspiel so liebe Ahya. Weil du in deiner Performance diese Übersetzungsleistungen erbringst, indem du dieses klassische weiße Instrument auf Schwarze Musikhistorien, Partituren, in Ebonics übersetzt. Die Art und Weise, wie du die Harfe spielst, ist durch diese vielfältige Intersektionalität gekennzeichnet. Schwarze Texte vereinen zwei Stimmen in sich. Code-Switching hat uns in der Vergangenheit das Überleben gesichert. Aber es hat auch diese wunderbare Hybridität in unserer Kultur hervorgebracht, die den entscheidenden Unterschied macht.

Was ich besonders aufschlussreich finde, ist die Frage, was es eigentlich bedeutet, in einem Raum wie diesem Schwarz, queer und trans zu sein

Ahya Simone
James Gregory Atkinson, Detroit Archive, 2019, Filmstill, © James Gregory Atkinson

MN Da wir gerade von der Kontrolle des eigenen Narrativs sprechen, bringt mich das zur nächsten Frage: Ihr beide arbeitet immer mit Leuten zusammen, die euch nahe stehen. Wie wichtig ist es für euch, eure Projekte mit Personen aus eurem Umfeld umzusetzen, auch im Hinblick auf das, was ihr als Künstler*innen sagen wollt??

AS Ich bin stolz darauf, mit Menschen zu arbeiten, die mir nahestehen. Aber wenn man darüber nachdenkt, haben wir gar keine andere Wahl, als unsere Projekte mit unserer Community zu verwirklichen, denn es sind die Menschen, die man kennt, die vielleicht in der Nähe leben oder mit denen man in irgendeiner Weise verbunden ist. Und das sind die besten Kollaborationen.

JGA Es ist so wichtig, nicht bei Null anzufangen, da stimme ich absolut zu.

AS Außerdem gibt es in Detroit nicht viele Fördermittel, Künstlerresidenzen oder ähnliches für Musiker*innen oder Künstler*innen, um sich ausschließlich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Und selbst die vorhandene Infrastruktur ist nicht immer wirklich für ihre eigenen Absichten da.  

JGA Aber selbst hier, ich meine in Deutschland, haben wir zwar dieses Privileg der Förderung, aber die Institutionen haben nicht das Wissen, um die Inhalte unserer Arbeit zu kontextualisieren oder zu diskutieren. Sie können nicht für uns sprechen und deshalb müssen wir zusammenarbeiten, denn sonst würden wir wahrscheinlich nur Kunst machen, die auf den kommerziellen Erfolg abzielt und die westliche Kunstgeschichte nachahmt.

James Gregory Atkinson, Detroit Archive, 2019, Filmstill, © James Gregory Atkinson

MN Ahya, mit „Femme Queen Chronicles“ hattest du die Gelegenheit, nicht nur Trans-Frauen vor sondern auch hinter der Kamera einzusetzen, eben weil du Fördermittel zur Verfügung hattest. Genügend Geld, um vor Ort Trans-Frauen für z.B. Make-up und Haare engagieren zu können. Gleiches gilt für das Drehbuch. Dein Team bestand fast ausschließlich aus Schwarzen Trans-Autoren. Das ist einfach ideal nicht nur eine Serie über eine bestimmte Perspektive aus Detroit zu haben, sondern auch die Personen, die diese Perspektive kennen und diese Geschichten erzählen können.

AS Aber die meisten Geschichten aus Detroit werden normalerweise nicht einmal von Menschen aus Detroit erzählt. Ich kann nur sagen, dass ich oft keine andere Wahl habe, als mit meiner Community zusammenzuarbeiten. Und das soll nicht heißen, dass das etwas Schlechtes ist. Ich finde es wirklich toll, denn wir haben einfach andere Werte, wir haben etwas, das wir wirklich sagen wollen und das ist, dass wir uns wirklich gegen die dominante Kultur wehren.

Ahya Simone, Femme Queen Chronicles, 2019, Filmstill

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