Bewegungen von Menschenmassen lassen sich mit Algorithmen erstaunlich leicht simulieren. Wie dies unser reales Leben beeinflusst, zeigt der Film „Transformation Scenario“ im kommenden Double Feature.

Der Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti beschrieb in seiner 1982 erschienen Autobiographie in eindringlichen Worten eine Demonstrationserfahrung, die er bereits 1927 als eigentlich Unbeteiligter gemacht hatte: „Die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Für Canetti kulminierte die Faszination schließlich in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“ (1960), das sich mit ebenjener Entfesselung des Individuums in der Masse sowie deren Verführbarkeit durch politische Führer beschäftigte.

Canetti setzte sich bewusst von den Arbeiten des Psychoanalytikers Sigmund Freuds und des Soziologen Gustave le Bons zur Massenpsychologie ab und sah so in der „Masse“ auch nicht ausschließlich ein negatives, destruktives Moment. „Masse und Macht“ war für Clemens von Wedemeyer (*1974) während seiner Studienzeit von großer Bedeutung, wie er unlängst dem Kunst- und Kulturmagazin „Arterritory“ in einem Interview erzählte.

Unzählige Aufnahmen von Massenbewegungen ergeben ein Bild

In seiner Arbeit „Mass“ von 1998 zeigte seine Faszination für Canettis Hauptwerk direkten Einfluss: Alte Filmaufnahmen von Demonstrationen und Massenversammlungen aus den 1920er Jahren wurden hier so oft wiederbelichtet, bis die Zeitdokumente fast nur noch aus einem grauen Schimmer zu bestehen schienen. 20 Jahre später bezieht sich Wedemeyer in „Transformation Scenario“, das erstmalig 2018 auf der Riga Biennale zu sehen war, wieder auf Canetti. Die Arbeit stellt einen collagenhaften Zusammenschnitt aus unzähligen Archiv-Ausschnitten (samt nachfolgender Quellenangabe aller verwendeten YouTube-Beiträge) dar, die sich allesamt mit der Bewegung von Menschenmassen beschäftigen.

Clemens von Wedemeyer, Mass, 1998 © the artist, 1998 Germany, Image via kow-berlin.com

Clemens von Wedemeyer, Mass, 1998 © the artist, 1998 Germany, Image via kow-berlin.com

Ausschnitte aus Making-of-Produktionen zu Hollywood-Blockbustern sind ebenso zu sehen wie Dokumentarausschnitte von Protestbewegungen gegen G20-Gipfel oder Aufnahmen vom Woodstock-Festival. Aus dem Off entspinnt sich eine Konversation zwischen einer Frau und einem Mann über die Bewegung von Massen, deren physikalische Grundlagen und die Nutzbarmachung jener Erkenntnisse. Demnach haben sich zunächst vor allem große Filmproduktionen aus Kostengründen immer mehr auf Algorithmen verlassen, die computeranimierte Menschenmassen realistisch ins Bild setzen, um nicht auf Statisten angewiesen zu sein (man denke nur an die Schlachtszenen aus der „Herr der Ringe“-Trilogie von Peter Jackson). 

Das Gespräch erin­nert zuneh­mend an eine Art Corpo­rate-Iden­tity-Werbung

Darüber hinaus werden solch virtuelle Szenarien, die auf komplizierten Algorithmen beruhen, in der Stadtplanung, bei Evakuierungsplänen oder bei Vorbereitungsübungen der Polizei zu Großdemonstrationen genutzt. Die Menschenmasse gehorcht physikalischen Grundlagen der Strömungsmechanik, und während sie sich durch Engpässe oder um Hindernisse schlängelt, erscheint sie wie ein neuer Organismus, eine neue Entität aus Vielen, in der die Einzigartigkeit des Individuums erlischt. Die Konversation in „Transformation Scenario“ erinnert zunehmend an eine Art Corporate-Identity-Werbung  in einer alternativen Welt, in der aus Forschungserkenntnissen zu Massenbewegungen neue soziale, politische und ökonomische Realitäten für eine simulierte Gesellschaft geschaffen werden können.

Clemens von Wedemeyer, Transformation Scenario, 2018, still, courtesy: KOW, Berlin & Galerie Jocelyn Wolff, Paris
Clemens von Wedemeyer, Transformation Scenario, 2018, still, courtesy: KOW, Berlin & Galerie Jocelyn Wolff, Paris
Clemens von Wedemeyer, Transformation Scenario, 2018, still, courtesy: KOW, Berlin & Galerie Jocelyn Wolff, Paris

Denn: „A good machine can govern better today than a bad politician“, wie es an einer Stelle heißt. „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes“, heißt es wiederum in Canettis „Masse und Macht“. Jene Angst verliere der Mensch nur in der Masse, in der er vollkommen aufgehe und Teil von etwas Größerem werden könne – die bestialischen Exzesse jenes Größeren ließen sich indes in der ganzen Menschheitsgeschichte nachvollziehen.

Als weiteren Film hat sich Clemens von Wedemeyer „Leben – BRD“ des deutschen Filmemachers Harun Farocki aus dem Jahr 1990 ausgesucht. Farocki, bekannt für seine unzähligen filmischen Essays, gewährt in seiner Arbeit einen Einblick in diverse Ausbildungs-, Schulungs- und Simulationskurse. Ohne einordnenden Kommentar filmt er Hebammen, Polizisten, Versicherungsvertreter, Krankenpfleger und Bundeswehrsoldaten in realen Übungssituationen und kreiert so das Bild einer bundesrepublikanischen Planungsgesellschaft der späten 1980er Jahre, die sich auf alles nur Denkbare und immer auf das Schlimmste vorzubereiten sucht.

Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.

Elias Canetti

Von der Geburt bis hin zum Tod, vom Ehestreit bis hin zur kriegerischen Auseinandersetzung: Nichts bleibt unerprobt, alles muss bis ins kleinste Detail geübt, analysiert und besprochen werden, um im Ernstfall richtig reagieren zu können. Das im Titel genannte Leben in der BRD scheint bei Farocki  eine Simulation desselben zu sein –  das zu leben vielleicht gar nicht mehr notwendig ist, kann man es doch mit der Vorbereitung darauf schon hinter sich bringen. Zeigt von Wedemeyer in „Transformation Scenario“, wie sich Menschenmassen durch Computer simulieren und jene Erkenntnisse so vielleicht für gesellschaftliche und ökonomische Visionen verwerten ließen, bleibt der Tenor interessiert-ambivalent.

Die Grenzen zwischen simulierten Möglichkeiten und Leben verschwimmen

Die Aussicht auf eine Gesellschaft, in der sich beispielsweise die Regierungsführung automatisieren ließe, wird lakonisch kommentiert: „You dont have to get paranoid. Masses are in constant transformation“. Die Menschen in „Leben – BRD“ sind da schon fast einen Schritt weiter: Folgt man Farocki, simulieren sie mit ihren nicht enden wollenden Plan- und Übungsspielen nur noch die Möglichkeit eines eigenen Lebens. Und gleichen somit beinahe jenen computergesteuerten Maschinen, die in seinem Film wiederholt beim automatisierten Testen diverser Produkte zu sehen sind.

Double Feature

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