Lange galt Plastik als universelles und demokratisches Material, das auch die Welt der Architektur revolutionierte. Doch in einer Zeit, in der Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein von immer größerer Bedeutung sind, werden alternative Baustoffe und Lösungen erforscht.

Die Erforschung neuer Materialien und Methoden, das Ergründen experimenteller Ansätze und progressiver (Raum)Konzepte sind aus der Architektur nicht wegzudenken. Auch bei der Entwicklung von Kunststoffen und dem Ausloten möglicher Einsatzbereiche, waren es Architekt*innen und Ingenieur*innen, die mutig und oftmals spielerisch neue Wege beschritten.

Gut ablesen lässt sich dies an den internationalen Leistungsschauen von Industrie und Kunst, den Weltausstellungen, bei denen stets die neuesten Baumaterialien und aktuellen Entwicklungen der Ingenieurbaukunst präsentiert wurden. Bis auf wenige Ausnahmen gingen die dort gezeigten Utopien zwar nicht in die (Massen)Fertigung, dennoch sind sie Teil unserer realen Umgebung. Man denke nur an die im Jahr 1972 fertiggestellte Zeltdachkonstruktion für das Olympiastadion in München von Frei Otto und den Stuttgarter Architekten Behnisch & Partner. Frei Otto beschäftigte sich bereits seit den 1950er-Jahren mit nachhaltigem, ressourcenschonendem und energieeffizientem Bauen und leistete Grundlagenforschung, die in den kommenden Jahrzehnten das Metier beeinflussen sollte. Stand bei Frei Otto unter der Verwendung konventioneller Baumaterialien noch die Natur als Referenz für seine Werke im Mittelpunkt – für die Münchener Dachstruktur dienten Spinnennetze, Seifenblasen oder Kieselalgen als Vorbild – so war das gemeinsame Merkmal der darauffolgenden Architekt*innengeneration die Faszination für Technik und Raumfahrt und dass sie ihre Ideen in Installationen und Selbstversuchen austesteten.

Frei Otto und Behnisch & Part­ner, Olympiastadion München, Image via commons.wikimedia.org

Frei Otto und Behnisch & Part­ner, Olympiastadion München, Image via professionearchitetto.it

Experimente mit mobilen Strukturen aus Plastik im Space Age

So erweiterten Coop Himmelb(l)au, Hans Hollein oder Haus-Rucker-Co den Architekturbegriff ab den 1960er-Jahren und lösten die Grenzen zwischen den Disziplinen auf. Mit ihren Entwürfen und Installationen forderten sie eine demokratische Architektur, die flexibel, anpassungsfähig und interaktiv ist. Beflügelt vom zukunftsorientierten und technikaffinen Zeitgeist des Weltraumzeitalters, experimentierten sie mit mobilen und tragbaren Strukturen, die es den Menschen erlauben, den Raum auf neue und individuelle Weise zu nutzen: „Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken!“, skandierte etwa Hans Hollein, der mit seinem „Mobile Office“ ein aufblasbares Büro propagierte, das temporäres Arbeiten überall ermöglichen sollte.

Hollein und seine Zeitgenoss*innen zeigten damals auf, wie die Architektur durch die Verwendung von Kunststoffen revolutioniert werden könnte. Besonders in den 1960er- bis 1980er-Jahren, als Plastik Einzug erhielt in die Modul- und Plattenbauweise im Massenwohnungsbau, war es das ideale Material: vielseitig einsetzbar, langlebig, günstig in Herstellung und Vertrieb – und damit geradezu demokratisch. Die Schattenseiten sind uns heute bekannt, doch trotzdem werden in der Bauindustrie immer noch jährlich 65 Millionen Tonnen Kunststoff verbaut. Dabei gibt es bereits Alternativen: Forscher*innen, Architekt*innen und Designer*innen haben innovative Methoden entwickelt, die die Zukunft der Architektur prägen könnten. Diese Projekte vereinen ökologische Verträglichkeit mit ästhetischer Vielfalt und eröffnen neue Perspektiven für eine nachhaltige Gestaltung unserer gebauten Umgebung.

Hans Hollein, Eben gelandet. Hans Hollein in seinem mobilen Büro, 1969 © ORF, Courtesy Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg, © Privatarchiv Hollein

Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken!

Hans Hollein
Schöner Wohnen im Mush-Room?

Die Entdeckung des Potenzials von Pilzen als Baustoff hat die Architekturbranche besonders aufhorchen lassen. Das Myzelium – ein dichtes Netzwerk aus Pilzwurzeln – kann in Kombination mit pflanzlichen Materialien dazu verwendet werden, robuste Verbundwerkstoffe herzustellen. Denn Pilze sind besondere Lebewesen, die über einen Körper verfügen, der aus lauter kleinen einzelnen Fäden besteht, die das sogenannte Myzel bilden. Dieses kann je nach Pilzart auf den unterschiedlichsten Materialien leben, sich ausbreiten und wachsen – vom Kaffeesatz bis zum Erdboden.

Im Gegensatz zu Plastik, das jahrhundertelang braucht, um sich zu zersetzen, können pilzbasierte Materialien am Ende ihrer Lebensdauer kompostiert werden. Und auch die Produktion erfordert weniger Energie und Ressourcen als herkömmliche Baumaterialien. Dass Utopien wie diese Wirklichkeit werden können, zeigt der „MY-CO SPACE“, ein für zwei Personen ausgelegter Erlebnisraum des 2020 gegründeten Kollektivs MY-CO-X. Die Holzkonstruktion mit Pilzpaneelen konnte vor zwei Jahren im Rahmen von tinyBE bereits in Frankfurt getestet werden: Der etwa 20 qm große Space, in dem es sich Schlafen und Arbeiten lässt, ist den Macher*innen zufolge auch eine Antwort auf das zunehmende Nomadentum vieler Menschen, die in der Zukunft wohl verstärkt unter Bedingungen begrenzter Ressourcen leben und arbeiten müssen. Mit dem Einsatz von Pilzen könnte demnach ein leichtgewichtiges und vollständig zirkuläres Bausystem entstehen, das den sich verändernden Anforderungen im Bauwesen gerecht wird. 

MY-CO SPACE by MY-CO-X © tinyBE #1, Foto: Wolfgang Günzel, Image via tinybe.org

MY-CO SPACE by MY-CO-X © tinyBE #1, Foto: Wolfgang Günzel, Image via tinybe.org

Spinnenseide – der „Superstoff“ der Natur

Und damit nicht genug: Ein weiterer „Superstoff“ aus der Natur könnte bald eine revolutionäre Rolle in der Zukunft der Bauindustrie spielen. Leichter als Stahl, aber zugfester als jedes andere natürliche oder synthetische Material ist Spinnenseide. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu einem Meter pro Sekunde ziehen die kleinen Tiere ihre Seidenfäden zum Netzbau und Abseilen – ein Phänomen, das seit Jahrzehnten fasziniert. Das Material aus langen Eiweißmolekülen zeigt Eigenschaften, bei denen menschgemachte Kunst- und Baustoffe nicht mithalten können. Weltweit versuchen Wissenschaftler*innen die Geheimnisse der Spinnenseide zu entschlüsseln. Obwohl sie den genetischen Code der Spinnenseide bereits geknackt haben und die chemische Zusammensetzung der Fäden kennen, fehlt noch das „Rezept“ für ein industrielles Herstellungsverfahren, das die Produktion großer Mengen ermöglicht. Im Labor übernehmen Bakterien die Produktion der künstlichen Faser, die wasserabweisend, entzündungshemmend, hypoallergen und biologisch abbaubar ist – und damit Eigenschaften besitzt, die auch für die Bereiche Medizin, Kosmetik und Mode von Interesse sind.  Zu Spinnenseiden-Beton verarbeitet, wäre es sogar möglich, die großen Bauaufgaben der Zukunft, wie das erbebensichere Bauen, zu lösen. Ein Lichtblick!

Spinnennetz, Image via commons.wikimedia.org

Synthetische Spinnenseide (c) dpa, Image via forschung-und-lehre.de

Abschließend kann man fragen: Utopische Architekturkonzepte – wozu sind sie gut? Im Bereich der Architektur mangelte es nie an Visionen. Vielmehr hat sie schon immer dazu beigetragen, Entwicklungen voranzutreiben, auszuloten, Lösungen zu finden. Wenngleich die Plastik-Fixierung der Architekt*innen im Space Age aus heutiger Sicht nicht zielführend war, bereitete Kunststoff damals den Weg für Innovation. Nun sind wiederum die Architekt*innen und Bauingenieur*innen von heute gefragt, sich langfristig vom Baumaterial Plastik zu lösen und Antworten auf die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Die Projekte verdeutlichen das enorme Potenzial nachhaltiger Stoffe und Methoden. Sie bieten nicht nur praktische Auswege, sondern eröffnen auch neue ästhetische Möglichkeiten, Verbindungen zwischen Menschen, Natur und gebauter Umwelt zu schaffen. Und vielleicht heißt es ja bald schon: „Schöner Wohnen im Mush-Room“…

 

Richard Buckminster Fuller, Save our planet – save our cities, 1971 © Foto: Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, ZHdK

PLASTIC WORLD IN 3D

PLASTIC WORLD

22. JUNI – 1. OKTOBER 2023

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