Ein Kommentar zur Beschleunigung der modernen Gesellschaft und der Zwang des „in-Bewegung-bleibens“: Laufen als Krise. Stillstand als Chance.

Aus ökonomischer Perspektive ist „Stehen-bleiben“ unproduktiv: Der Motor muss immer weiterlaufen, in Deutschland vor allem der Verbrennungsmotor. Kapitalistische Gesellschaften funktionieren dabei nach dem Prinzip: „in-Bewegung-bleiben“ oder umfallen.

Der Soziologe Hartmut Rosa betitelt diese Beobachtung als „Dynamische Stabilisierung“. Man könne sich die Gesellschaft dabei wie Fahrradfahren vorstellen. Wenn kräftig getreten wird, geht die Fahrt weiter. Wird das Fahrrad langsamer, fängt es an zu straucheln. Die Fahrt erneut aufzunehmen, kostet viel Kraft und gelingt nicht zwangsläufig. In dieser Metapher ist eine simple Wahrheit verpackt: kapitalistische Gesellschaften müssen immer weiterwachsen, um am Laufen zu bleiben. Schneller, weiter, besser, sonst droht das System ins Wanken zu geraten.

Wo hält eine Gesellschaft inne?

Der Wachstumszwang begnügt sich dabei längst nicht mehr nur mit der wirtschaftlichen Sphäre der Gesellschaft. Die ökonomische Rationalität hat vielmehr alle Bereiche des Alltagslebens fest durchdrungen. Das „Schneller, Weiter, Besser“ wird zum Teil einer allumfassenden Lebensform – das „weiter-Laufen“ – zum Selbstzweck unseres Alltags. Der Zwang zur Beschleunigung avanciert zu einer neuen Religion, die sich die Kultur und Leben, zu eigen macht. Das Resultat ist eine durchrationalisierte Gesellschaft, die ein Gefühl des „nicht-Genügens“ sowie eine maßlose Selbstoptimierung erzeugt. Daraus entsteht die permanente Angst überholt zu werden. Nicht stehen bleiben … Laufen! Rennen!

Sebastián Díaz Morales, Pasajes III, 2013, Filmstill, © the artist and carlier | gebauer, Berlin/Madrid

Die Corona-Pandemie hat die Beschleunigungs-Notbremse gezogen: Entschleunigung by Desaster. Diese Form der Katastrophen-Verlangsamung, hat gezeigt, wie schnell die Gesellschaft beim unkontrollierten Stillstand kollabiert: Neben den gesundheitlichen Folgen, kam es zum Einbruch der Finanzmärkte sowie einer massiven Unsicherheit, wie lange die Infrastruktur standhalten kann. Außerdem zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Nicht jede*r kann sich den Stillstand leisten. Selbst Olaf Scholz’ „Bazooka“, kann über diesen Fakt nicht hinwegtäuschen.

Stillstand kann produktiv sein

In der Ausstellung WALK! ist das NICHT-GEHEN als ein künstlerischer Affront zu dem von Rosas etablierten Begriff der „Dynamischen Stabilisierung“ zu deuten. Die Verweigerung des Gehens kann im kulturellen Kontext ein produktiver Zustand sein. Die Performance „A Needle Woman (Tokyo)“ (1999) ist eine achtteilige Arbeit der Künstlerin Kimsooja, die Stillstand in verschiedenen Metropolen dieser Welt thematisiert: Sich bewegende Menschenmassen versus eine regungslose Frau, interne Ruhe versus externe Unruhe. Fremdartig steht Kimsooja bewegungslos mitten in Tokyo, während um sie herum alles in Bewegung ist – Menschmassen schwirren kreuz und quer geschäftig um sie herum. Die Rückenperspektive fungiert als Identifikationsbrücke und so reiht sich der*die Betrachter*in automatisch als Person hinter die Künstlerin ein. Während wir stehend ihre tonlose Arbeit betrachten, erweitert sich die Arbeit stillschweigend in den Ausstellungsraum. Ihre Ruhe ist unsere Ruhe.

Kimsooja, A Needle Woman, Tokyo (Japan, 1999, Courtesy of Kimsooja Studio © Kimsooja / VG Bild-Kunst, Bonn

Das nicht-Gehen in der Arbeit von Kimsooja beinhaltet eine Frage: Kann alles so weitergehen? Ist das Tempo, das wir in unserer Leistungsgesellschaft etabliert haben, die einzige Möglichkeit, wie sich eine Gesellschaft entwickeln kann? Während der Stillstand allgemeinhin negativ konnotiert ist und im Kapitalismus als ein Synonym für Unproduktivität verstanden wird, ist die künstlerische Ruhe produktiv und eröffnet durch die Reflexion darüber einen imaginären Ort. Stillstand kann, so zeigt es die Arbeit „A Needle Woman“ produktiver sein als jedes „in-Bewegung-bleiben“.

In der Straßenperformance „The Great White Way“ (2001-2006) kriecht Pope.L über den kalten Asphalt Manhattans durch die Straßen New Yorks, um eine andere Perspektive zu eröffnen. So führt er den Blick weg von den Vorstandsetagen der Skyscraper, hin zu den Leuten auf der Straße. Hier treffen Gegensätze aufeinander. Menschen ohne Zuhause, die um ihr Überleben kämpfen, während andere versuchen genau davor die Augen zu verschließen. Die soziale Ungerechtigkeit bleibt trotzdem unsichtbar auf den Asphalt geschrieben. So thematisiert Pope.L den tiefen Konflikt einer gespaltenen Gesellschaft, die Fragen nach Rassismus, Stigmatisierung und sozialer Ungleichheit aufwirft. Neben diesen Aspekten geht es auch um eine neue Form der Bewegung. In der Regel durchstreift man eine Stadt zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Auto oder dem Fahrrad, um möglichst schnell von A nach B zu gelangen. Pope L widersetzt sich den klassischen Fortbewegungs-Modi und eröffnet in seiner atypischen Bewegung durch die Metropole die Frage: Was passiert, wenn man sich der Beschleunigung entzieht, weil man nicht mithalten kann oder will? 

Was passiert, wenn man sich der Beschleu­ni­gung entzieht, weil man nicht mithal­ten kann oder will?

Pope.L, The Great White Way, 22 Miles, 5 Years, 1 Street (Segment #1: December 29, 2001), 2001–06, Courtesy of the artist and Mitchell-Innes & Nash, New York
Pope.L, The Great White Way, 22 Miles, 5 Years, 1 Street (Segment #1: December 29, 2001), 2001–06, Courtesy of the artist and Mitchell-Innes & Nash, New York

Seine Entschleunigung nimmt ironischer Weise einen Stillstand vorweg, der New York und die ganze Welt erstarren ließ. Das Jahr der Finanzkrise führte uns ab 2007 vor Augen: Die Beschleunigung und das „in-Bewegung-bleiben“ hat die Welt in eine globale Krise geführt, die die soziale Frage immer weiter verschärfte. Pope.L hat mit seinen Performances einiges antizipiert: Wir haben noch einen langen Weg vor uns und müssen unsere Art und Weise wie wir uns durch die Welt bewegen ändern und neu denken.

Ja, was ist nun des Rätsels Lösung?

Alles zu verlangsamen kann nicht das Ziel sein, schließlich sind wir alle froh, wenn die Bahnfahrt oder das Anstehen an der Supermarktkasse nicht noch länger dauern. Vielmehr ist es wichtig zu begreifen, dass sich bestimmte Bereiche im Leben gerade durch den Trotz gegen die Unterwerfung der Marktlogik auszeichnen. Anderweitig übernimmt der systemische Zwang, der keine Fragen stellt, der sich keinen Bedürfnissen annimmt, der letztlich nur eine Antwort auf die Frage, wohin wir laufen wollen, gibt: schneller, weiter, besser… Wer nach Alternativen sucht, muss offen für Neues sein: Inspiration dazu liefert die Ausstellung: WALK!

Allora & Calzadilla, Land Mark (Foot Prints), 2001–02 © Allora & Calzadilla / Galerie Chantal Crousel, Paris

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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