Nach 1933 etablierten die Nationalsozialisten in vielen Bereichen ein spezifisches Vokabular. Autor Matthias Heine widmet sich mit dem Begriff „Kulturschaffende“ einem Beispiel, das in den allgemeinen Sprachgebrauch übergangen ist, und erklärt Herkunft und Hintergründe.

Zur totalitären Umgestaltung Deutschlands durch die Nationalsozialisten gehörte auch die gezielte Durchsetzung einer neuen Sprechweise, die das Denken von vornherein in die erwünschten ideologischen Bahnen lenken sollte. Gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler formulierte Propagandaminister Josef Goebbels im März 1933 als Ziel: „Das Volk soll anfangen, einheitlich zu denken, einheitlich zu reagieren.“

Zu diesem Zwecke wurde Schüler*innen nicht nur die NS-Lehre, sondern auch der korrekte Gebrauch der Terminologie beigebracht. Darüber hinaus gab Goebbels in täglichen Besprechungen der gelenkten Presse erwünschte Ausdrücke vor – so sollten beispielwiese die Novemberpogrome 1938 „Aktionen gegen die Juden“ genannt werden.

Wille zur Sprachlenkung

Auch die Kultur war von diesem Willen zur Sprachlenkung betroffen. Als typisch für diesen Bereich empfinden wir heute Prägungen wie „Thing“ für eine Form des nationalsozialistischen Freilichtdramas oder „Gottbegnadete“ für eine Gruppe von herausragenden Künstlern, die besondere Privilegien genoss.

Hannah Höch, Die Spötter, 1935, Berliner Sparkasse, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Die „Kulturschaffenden“

Doch es gab auch NS-Prägungen, die weniger leicht identifizierbar und deshalb heute noch im Gebrauch sind. Dazu gehört das weit verbreitete „Kulturschaffende“.

Das fast nur im Plural benutzte Wort bezeichnete seit dem September 1933 alle in der Reichskulturkammer organisierten Personen. Es wurde im Zusammenhang mit der Errichtung der Kammer durch das Gesetz vom 22. September geprägt. Vorher gab es nur das Adjektiv „kulturschaffend“ für Personen, Institutionen und gelegentlich für Völker, die den angeblich kulturlosen Völkern gegenübergestellt wurden. Das Gesetz selbst enthielt den Ausdruck noch nicht, dort wird von „Kulturberufen“ gesprochen. Doch 1934 unterschrieben viele Künstler*innen einen „Aufruf der Kulturschaffenden“, der im Vorfeld der für den 19. August anberaumten Volksabstimmung dafür warb, die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person Hitlers zu vereinen.

Jeanne Mammen, Männerkopf, um 1945, Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin, © Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Matthias Viertel, Berlin

Es ist eingewendet worden, dass sich das Wort „Kulturschaffender“ schon vereinzelt in Zeitungen vor 1933 nachweisen lasse. Doch es handelt sich hier immer um spontane Substantivierungen des genannten Adjektivs „kulturschaffend“, in denen „Kultur“ eine andere Bedeutung hat. Hier ist „Kultur“ eher im Sinne von „Zivilisation“ gemeint, den es auch in Formulierungen wie „frühe Kulturen“ oder in Zusammensetzungen wie „Hochkultur“ hat.

Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ bietet für diese Bedeutung die notwendigerweise etwas umständliche Definition „Gesamtheit der von der Menschheit im Prozess ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt geschaffenen und ihrer Höherentwicklung dienenden materiellen Güter sowie der geistigen, künstlerischen und moralischen Werte“. In diesem Sinne kann auch ein Ingenieur, ein Priester, ein Politiker, ein Handwerker oder ein Mediziner „Kulturschaffender“ sein.

Ernst Wilhelm Nay, Frauenkopf in Hand gestützt, 1944, Günther-Peill-Stiftung, Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren, © Foto: Peter Hinschläger Fotografie / Ernst Wilhelm Nay Stiftung / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Dies ist jedoch nicht gemeint mit dem Begriff, der zur NS-Zeit geprägt wurde und den wir bis heute gebrauchen: Er bezeichnet die Gesamtheit der künstlerisch Tätigen – also Künstler*innen im weitesten Sinne (nicht nur bildende, sondern auch Schauspieler*innen, Schriftsteller*innen etc.) und diejenigen, die künstlerische Arbeit mit ermöglichen, von den Verleger*innen und Theaterintendant*innen bis zu Bühnenarbeiter*innen oder Lektor*innen. In diesem Sinne ist das Wort erst 1933/34 aufgekommen. Es wird auch in „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“, einer kritischen Publikation zur NS-Sprache, die in der Nachkriegszeit erschien, als nationalsozialistische Wortschöpfung identifiziert und der Bildhauer Ernst Barlach setzte es 1934 in einem Brief noch in Anführungszeichen ­– üblicherweise ein Indiz dafür, dass ein Wort noch neu und ungewohnt ist.

Ironischerweise rettete sich „Kulturschaffende“ aus der Nazisprache in das Vokabular der DDR herüber. Im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ aus der Duden-Redaktion wird 1994 als Verbreitungsgebiet des Ausdrucks „besonders ehemalige DDR“ angegeben. Aber das Wort blieb auch im westdeutschen Politjargon nach 1945 immer in Gebrauch und ist heute präsenter denn je. Zwei Beispiele von vielen jenseits jedes Faschismusverdachts: Ihre Coronahilfemaßnahmen für Künstler erläuterte die Stadt Frankfurt so: „Mithilfe des Notfallfonds soll Kulturschaffenden während der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie beigestanden und die Weiterführung ihrer künstlerischen Tätigkeit gesichert werden.“ Und im April 2022 berichtete der Sender arte über „Kulturschaffende und der Krieg“.

Jeanne Mammen, Sterbender Krieger (Junger Soldat im Frontfeuer), um 1943, Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin, © Jeanne-Mammen-Stiftung im Stadtmuseum Berlin / VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Oliver Ziebe, Berlin
Werner Heldt, Meeting (Aufmarsch der Nullen), 1933–1935, Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, © Berlinische Galerie / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Gründe für die post-nationalsozialistische Karriere des Wortes 

Drei Gründe haben die post-nationalsozialistische Karriere des Wortes „Kulturschaffende“ ermöglicht. Zum Ersten hat es tatsächlich eine Benennungslücke geschlossen – ein so amtliches und sachlich klingendes Wort für die Gesamtheit aller im Kulturbetrieb Tätigen existierte vorher nicht. Zweitens ist es semantisch nicht so unlösbar mit der NS-Ideologie verknüpft wie etwa Ausdrücke in der Art von „Untermensch“ oder „verjuden“. 

Und drittens kommt es in heutiger Zeit dem Bedürfnis nach einer genderneutralen Ausdrucksweise sehr entgegen. Grund zur Besorgnis und zur Sprachreinigung besteht deshalb nicht: Man wird nicht zum Nazi, wenn man „Kulturschaffende“ sagt – genauso wenig, wenn man Ausdrücke wie „betreuen“, „entrümpeln“ oder „Eintopf“ oder andere nicht eng mit der faschistischen Ideologie verknüpfte Wörter gebraucht, die seit 1933 im Zusammenhang mit Propaganda, Krieg und Maßnahmen des Regimes aufkamen. Es ist aber natürlich interessant und erhellend, deren Herkunft zu kennen.

Franz Radziwill, Stillleben mit Fuchsie, Radziwill Sammlung Claus Hüppe, courtesy Kunsthalle Emden, Foto: Gerdes / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

KUNST FÜR KEINEN. 1933–1945

4. März – 6. Juni 2022

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