Erst­mals in Deutsch­land sind Haupt­werke aus den großen Samm­lun­gen Kana­das zu sehen. Gleich­zei­tig unter­zieht die Ausstel­lung die Male­rei der kana­di­schen Moderne einer kriti­schen Revi­sion.

Uralte Wälder in entlegenen Regionen, majestätische Ansichten der Arktis, die Magie der Nordlichter: Die Malerei der kanadischen Moderne entwirft ein mythisches, ein imaginäres Kanada. Voller bildnerischer Experimentierfreude reisten Anfang des 20. Jahrhunderts Künstler*innen aus den Städten tief hinein in die Natur, auf der Suche nach einem neuen malerischen Vokabular. Die Schirn präsentiert in der Ausstellung Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910–1940 die Malerei der kanadischen Moderne aus aktueller Perspektive. 

Die umfassende Präsentation beleuchtet mit rund 90 Gemälden und Skizzen sowie Videoarbeiten und dokumentarischem Material die in Kanada überaus populären Werke der Künstler*innen rund um die sogenannte Group of Seven aus Toronto. Erstmals in Deutschland sind Hauptwerke aus den großen Sammlungen Kanadas zu sehen. Gleichzeitig unterzieht die Ausstellung die Malerei der kanadischen Moderne einer kritischen Revision. Von etwa 1910 bis 1930 malte die Group of Seven Landschaftsbilder, die für viele bis heute den Inbegriff Kanadas darstellen.

Die Group of Seven stilisierte das Land zu einer vermeintlichen Wildnis

Das erst 1867 zu einem mehr oder weniger unabhängigen Staat gewordene Land gründet auf einer langen Kolonialgeschichte. Bevor die ersten Siedler aus Europa kamen, war es bereits über Jahrtausende das Territorium Indigener Völker. Mit Bildern von erhabenen Gebirgen und einer unversehrten Natur schuf die Group of Seven die romantische Vision eines vorindustriellen Rückzugsortes und stilisierte das Land zur „terra nullius“, einer vermeintlich unbewohnten Wildnis. Die Malerei der Group of Seven ist also nicht zuletzt Produkt und zugleich Zeugnis kultureller Hegemonie sowie des Ausschlusses der First Nations. In der Ausstellung eröffnen filmische Werke, u. a. der Algonquin-französischen Künstlerin Caroline Monnet und der Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson, eine Gegenerzählung. Indigene Kritik wird einbezogen und Fragen zur nationalen Identitätsbildung sowie zu einem bewussten Umgang mit dem Land gestellt.

Lawren S. Harris, Mt. Lefroy, 1930 © Family of Lawren S. Harris

Die Künstler*innen der kanadischen Moderne vereinte das Ziel, die Schönheit, die Erhabenheit und auch das Pittoreske des Landes ins Bild zu setzen, um die junge Nation in der Ausformung einer verbindenden Identität zu bestärken. Mit ihrer Malerei wollten sie die künstlerische Unabhängigkeit von Europa erklären und eine eigene Schule der Landschaftsmalerei begründen. Sie strebten nach Authentizität und malerischen Experimenten, um ein neues, spezifisch kanadisches Bildvokabular zu entwickeln. Maßgeblichen Einfluss hatten auch der Philosoph Ralph Waldo Emerson sowie Henry David Thoreau, welcher in der Publikation „Walden“ seine Ideen formulierte, das Leben fern der Hektik und Geschäftigkeit des Industriezeitalters in der Natur zu verbringen.

Im Mai 1920 schlossen sich in Toronto Künstler wie Lawren Harris, Franklin Carmichael, F. H. Varley und J. E. H. MacDonald zur Group of Seven zusammen. Sie unternahmen Reisen in die Region Algoma in Northern Ontario, später auch am Nordufer des Lake Superior entlang oder auch bis in die Arktis. Mit dem Zug oder dem Kanu erreichten sie entlegene Orte, malten unter freiem Himmel, zelteten oder lebten in einem umgebauten Güterwagen. Als Vorreiter dieses neuen, kanadischen Künstlertypus und der unkonventionellen Art von Landschaftsmalerei gilt der Maler Tom Thomson, der auch als Fire Ranger und Guide im Algonquin Park nordöstlich von Toronto arbeitete und seine Künstlerfreunde zum Malen in der Natur anregte. Die Schirn zeigt unter anderem eine Auswahl seiner virtuosen Ölskizzen. Die ausgedehnten Wälder Ontarios mit ihrem charakteristischen Spiel von Licht und Schatten und den Färbungen der Jahreszeiten boten vielfältige Inspiration. In vereinfachten Formen und kraftvollen Farben schilderten die Künstler die Vielfalt der Bäume in der Tiefe des dichten Waldes. Auch die Künstlerin Emily Carr, die 1927 mit der Gruppe in Kontakt trat, schuf zahlreiche Walddarstellungen, die von tiefer Spiritualität und Verbundenheit mit der Natur geprägt sind. 

A.Y. Jackson, Terre Sauvage, 1913, National Gallery of Canada, Ottawa Foto: NGC
Franklin Carmichael, Autumn Hillside, 1920 © Art Gallery of Ontario L69.16

Der einsam aus dem Fels wachsende Baum ist ein weiteres, zentrales Motiv dieser Künstler. Die romantische Vorstellung des einsamen Baumes wurzelt in einer langen europäischen Tradition und wurde im Kanada der 1910er- und 1920er-Jahre zum Sinnbild einer jungen Nation, die im Begriff war, ihre eigene kulturelle Identität zu finden. Tom Thomsons stilisierte Darstellung einer Kiefer, die sich robust und standfest im Wind neigt, ohne zu brechen, wurde vielfach reproduziert.

Der einsame Baum ist eines der zentralen Motive

Die Group of Seven wollte mit ihren Bildern ein größtmögliches Publikum erreichen und veranstaltete zu diesem Zweck auch gemeinsame Ausstellungen in Kanada sowie in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und Frankreich. Die Ästhetik der Künstlergruppe kennzeichnet Plakativität und eine unmittelbare Wirkung. Ansonsten sind ihre Werke eher durch Ziele, Ideale, Themen und Motive verbunden als durch einen einheitlichen Stil. Auch wenn sie sich von der europäischen Moderne absetzen wollten, weisen ihren Werke Bezüge zum Postimpressionismus, Jugendstil oder Expressionismus aber auch zur Romantik auf. Zentral für eine Vorstellung von kanadischer Identität ist die Idee des Nordens, die analog zu der des „Wilden Westens“ in den USA entwickelt wurde. Historisch fußt sie auf der Faszination für die entlegenen Regionen des Landes, motivisch wird sie vor allem durch die vermeintliche Wildnis und die Arktis bestimmt. 

Tom Thomson. The West Wind, Winter 1916-1917, Photo © Art Gallery of Ontario, 784

Lawren Harris, der als führendes Mitglied der Group of Seven die kanadische Landschaftsmalerei maßgeblich prägte, hob in seinen Schriften wiederholt die Kraft des Nordens und seine Inspiration für die kanadischen Künstler hervor. Sein Werk ist von einer mystischen Naturverbundenheit geprägt; seine Gemälde kennzeichnet eine radikale Malweise mit reduzierten Formen und flächigem Farbauftrag. Anderen Künstlern der Gruppe boten die Nordlichter Inspiration für künstlerische Experimente. In der Ideenwelt der Group of Seven wird dem Norden die Wildnis als Möglichkeitsraum und künstlerischer Erfahrungsraum an die Seite gestellt.

Erst unter dem Einfluss der Industrialisierung wurde die Wildnis, welche in der westlichen Vorstellung zuvor als unheilbringend und gefährlich galt, zu einem Sehnsuchts- und Rückzugsort stilisiert. Die Idee der unberührten Natur als Gegenbild zur Zivilisation findet sich auch in den menschenleeren und stimmungsvollen Landschaftsdarstellungen der Group of Seven. Die ästhetisch geordnete „Landschaft“, die erhaben, pittoresk oder romantisch sein kann, ist im Kern ein europäischer Begriff. Das gilt ebenso für die Vorstellungen, Land zu besitzen oder zu beherrschen. Dem entgegen stehen Indigene Weltanschauungen der untrennbaren Verbundenheit mit dem Land und der Verwandtschaft mit ihm und allen nichtmenschlichen Wesen.

Tom Thomson, Claremont, Ontario, 1877 - Canoe Lake, Ontario, 1917, Northern Lights, About 1916-1917, Foto MMFA, Jean-François Brière
Lawren S. Harris. Lake and Mountains, 1928 © Family of Lawren S. Harris, Foto: Art Gallery of Ontario, 48/8

Seit den 1960er-Jahren werden die Gemälde der Group of Seven zunehmend kritisch gesehen. Im Zuge der Dekolonisation lehnen die First Nations die Darstellung von Kanada als unberührtem Land und die Aneignung ihrer Kultur durch nichtindigene Künstler ab. Auch die Geschichte Indigener Völker in den Gebieten, die heute Kanada heißen, wurde lange überwiegend aus einem kolonialen Blickwinkel erzählt, was sich zunehmend ändert. Die Ausstellung vollzieht diese Entwicklung der Verschiebung der Erzählperspektive nach. Am Beispiel der Hafensiedlung Ba’as in British Columbia, auch Blunden Harbour genannt, wird in der Schirn der Wandel von Darstellung und Repräsentation der First Nations anhand unterschiedlicher filmischer Werke von 1914 bis 2013 verdeutlicht.

Die Gemälde der Group of Seven werden zunehmend kritisch gesehen

Ba’as war Heimat einer Kwakwaka’wakw-Gemeinschaft, welche 1964 zwangsumgesiedelt wurde. In ihren frühen Werken hatte sich Emily Carr als Einzige im künstlerischen Umfeld der Group of Seven der Indigenen Kunst und Kultur gewidmet. Die Schirn zeigt ihr Gemälde „Blunden Harbour“ (um 1930), eine berühmte, stilisierte Darstellung der hölzernen Totemfiguren der Gemeinschaft. Auch der Stummfilm „In the Land of the Head Hunters“ („In the Land of the War Canoes“, 1914) wurde hier gedreht. Er wird heute kritisch betrachtet, da er die Kultur der Kwakwaka’wakw einem stereotypisierenden Drehbuch unterordnete. Doch gilt das Projekt des weißen Fotografen und Filmemachers Edward S. Curtis unter Beratung des Indigenen George Hunt als erster Film, der ausschließlich mit Indigenen Schauspielerinnen und Schauspielern besetzt wurde. 

Emily Carr, Blunden Harbour, ca. 1930, National Gallery of Canada, Ottawa, Foto: NGC

In der fiktiven Handlung werden zudem kulturelle Sitten und rituelle Bräuche der Gemeinschaft, die zur Entstehungszeit des Films durch die restriktiven Gesetze des Indian Act verboten waren, inszeniert und somit festgehalten. Der dokumentarische Film „Blunden Harbour“ (1951) des Anthropologen und Filmemachers Robert Gardner schildert den Alltag der Kwakwaka’wakw. Eine aktuelle Perspektive gibt „How a People Live“ (2013), für den die Gwa’sala-‘Nakwaxda’xw First Nations die Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson beauftragten. Anhand von Interviews und historischem Filmmaterial dokumentiert und begleitet Jackson die Geschichte und die Folgen der traumatischen Umsiedelung der Gemeinschaft. Die Schirn zeigt zudem auch die Filmcollage „Mobilize“ (2015) der Algonquin-französischen Künstlerin Caroline Monnet, welche mit Archivmaterial des National Film Board arbeitet und Fragen von Identität und Indigener Repräsentation aufwirft.

Caroline Monnet wirft Fragen von Indi­ge­ner Reprä­sen­ta­tion auf

Auch die Ausbeutung der Natur Kanadas als wirtschaftliche Ressource fand eher selten Eingang in die Werke der Group of Seven, die vor allem die Schönheit der Natur darstellten. Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren wurden weite Teile Kanadas forstwirtschaftlich genutzt, und die Papier- und Zelluloseproduktion boomte, wie ein 1935 von der kanadischen Regierung in Auftrag gegebene Promotionsfilm verdeutlicht. In diesem Kontext zeigt die Schirn Skizzen von Tom Thomson sowie Gemälde von Arthur Lismer oder Mary Wrinch, die Sägewerke, Stämme gefällter Bäume und deren Flößen schildern. 

Tom Henderson, Hereditary Chief, 'Nakwaxda'xw First Nation, aus dem Film "How A People Live", Lisa Jackson (Dir.) © Gwa'sala and 'Nakwaxda'xw First Nations 2013
Caroline Monnet, Mobilize, 2015, Filmstill, National film board of Canada, © Caroline Monnet

Emily Carr widmete sich auch der Wiederaufforstung. Zudem leitete der Bergbau Anfang des 20. Jahrhunderts in Kanada den Wandel von einer Agrar- zu einer Industrienation ein. Der Abbau der Bodenschätze ging mit mit Profitgier, Konflikten und Umweltzerstörung einher und führte zur weiteren Verdrängung und Umsiedelung Indigener Gemeinschaften von ihrem angestammten Land. Einige Künstler wie Yvonne McKague Housser, Franklin Carmichael oder Lawren Harris unternahmen Reisen in die Bergbaustädte in Northern Ontario und malten dort. Doch wie die Bilder der Natur, der Berge und der Wälder sind auch die industrialisierten Landschaften der Group of Seven meist menschenleer.

Yvonne McKague Housser, Silver Mine, Cobalt, 1930, Collection of Museum London. F.B. Housser Memorial Collection, 1945

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