Seit Wochen krabbeln sie über die Schirn-Webseite und sorgen für Irritation: Was hinter den Fliegen steckt, entschlüsselt nun der Künstler Jonas Lund. Ein Gespräch über ungleiche Machtverhältnisse, Informationsasymmetrie und politische Kunst im Netz.

Vor dem Interview habe ich mir einige deiner Online-Arbeiten angesehen und mich komplett darin verloren. Du hast ja zunächst Fotografie studiert und bist erst später zur „(Inter)net Art“ gewechselt. Wie kam es dazu?

Ich habe Fotografie an der Rietveld Academy in Amsterdam studiert, wo ein besonderer Schwerpunkt auf dem Medium der Fotografie liegt, und habe dort vor allem „Fotografie über Fotografie“ gemacht. Gegen Ende meines Studiums begann ich, Websites für Freunde zu programmieren, und entdeckte dadurch eine ganz neue Art der (Kunst)produktion. Damals schien das Medium der Fotografie in gewisser Weise ausgereizt: Man hat einen Apparat, der eine bestimmte Art von Bild ausgibt, und dieser Akt, den Apparat auf etwas zu richten, den Auslöser zu drücken und das Ergebnis ist das Werk, der fühlte sich so einschränkend an. Auf der anderen Seite war da die weite Welt der Online-Kunst mit ihren eigenen Produktionsmethoden, ihrer Community – das war irgendwie beflügelnd. Man kann den Tag mit der Idee beginnen, etwas zu kreieren, und dann, am Ende des Tages, können es alle sehen. Das erschien mir viel ansprechender und eröffnete neue Möglichkeiten.

Würdest du diesen Prozess auch als demokratischer beschreiben?

Ich weiß nicht, ob ich ihn demokratisch nennen würde, aber Macht, Einfluss und Handlungshoheit sind dort anders verteilt. Um 2009/10 gab es so etwas wie eine erste Welle der sozialen Medien. Und es zeigte sich immer deutlicher, dass solch automatisierte Systeme in erheblichem Maße bestimmen, wo unsere Gesellschaft heute in Bezug auf Regularien und Strukturen steht. Die Auseinandersetzung mit der Sprache und dem Prozess des Programmierens, das war, als würde man einen Teil seiner Handlungshoheit zurückgewinnen.

Die weite Welt der Online-Kunst mit ihren eigenen Produktionsmethoden, ihrer Community – das war irgendwie beflügelnd.

Jonas Lund
Selbstporträt Jonas Lund, 2018, Courtesy the artist

Und das Programmieren – hast du dir das selbst angeeignet?

Ja, in gewisser Weise schon. Vieles, was man da lernt, lernt man durch die „Community“. Und man googelt viel, also: richtig viel! Programmierlösungen und -anwendungen sind oft kostenlos, weil sie als Open Source Software vertrieben werden und stehen allen zur Verfügung. Viele Leute, die neue Software entwickeln, teilen sie anschließend. Es herrscht ein sehr kollaborativer und integrativer Geist. Man hat das Gefühl, Teil einer riesigen „Community“ zu sein. Und wann immer sich ein Problem oder eine Frage ergibt, findet man die Antwort darauf im Netz.

Arnold Schwarzenegger hat vor vielen Jahren in den sozialen Medien sieben Tipps gepostet, um ein erfülltes Leben zu führen. Der letzte Tipp war, der Gemeinschaft oder dem sozialen Umfeld etwas zurückzugeben, um so die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Indem man seine selbst entwickelten Programme mit anderen teilt und Open Source veröffentlicht, kann man auch der Gemeinschaft etwas zurückgeben.

Das führt mich zu einer anderen Frage: Dein Werk wird häufig als ironisch oder sogar zynisch beschrieben. Die Jonas Lund Tokens beispielsweise decken die Strukturen des Kunstmarktes auf und machen die Prozesse hinter dem Kauf und Verkauf von Kunst transparent. Auf diese Weise entmystifizierst du das gesamte System und stellst den Genius der Kunst, die Authentizität und Originalität des einzelnen Kunstwerks infrage. Wie würden du deine eigene künstlerische Tätigkeit in diesem Zusammenhang bewerten?

Das ist echt witzig, ich würde mich nicht als Zyniker beschreiben, eher als ein Skeptiker. Wenn man als Künstler nicht authentisch ist, wenn man nicht an Kunst glaubt, dann ist man nun mal Zyniker. Allerdings ist es durchaus möglich, den Kunstbetrieb und den Wert der Kunstproduktion infrage zu stellen und trotzdem an Kunst zu glauben. Aber das verwechseln viele miteinander, denn Künstler*innen, die überdies kritisch auftreten und den Kunstbetrieb als das beschreiben, was er faktisch ist – als ein Markt, ein riesiges Netzwerk der Stimmungsmache und Manipulation durch hierarchische Machtstrukturen –, werden sogleich als Zyniker bezeichnet, und man spricht ihnen den Glauben an den Wert der Kunst ab. Aber ich glaube dran. Ich glaube an die Macht und an den Wert des Kunstwerks.

Doch die Institutionen im Kunstbetrieb urteilen darüber, was „gute“, „relevante Kunst“ ist und was „schlechte“, „irrelevante Kunst“. Und je mehr Macht und Einfluss jemand hat, desto größer auch seine Möglichkeiten, auf den Wert eines Kunstwerks einzuwirken. Diese Erkenntnis halte ich nicht für zynisch, sie ist ganz und gar realistisch. Sie mindert auch nicht den Wert des einzelnen Kunstwerks, es geht vielmehr darum: Wie wird ein solcher Wert im globalen Netzwerk des Kunstbetriebs generiert?

Ich würde mich nicht als Zyniker beschreiben, eher als ein Skeptiker.

Jonas Lund

Jonas Lund Token Proposal #23, 2019, Image via jonaslund.com

Verfolgst du auch eine politische Agenda?

Ich würde sagen, jede Kunstprodukton ist politischer Natur – selbst wenn man beschließt, figurative Gemälde zu malen, die keinen offensichtlichen politischen Bezug haben. Du triffst ja eine Entscheidung hinsichtlich der eigenen Kunstproduktion, ob du nun diesen politischen Aspekt verfolgst oder nicht. In vielen meiner Arbeiten geht es darum, bestimmte Strukturen und Verhaltensmuster, Tendenzen und Prozesse sichtbar zu machen. Sie lenken den Blick der Betrachter*innen auf bestimmte Dinge, machen auf sie aufmerksam. Das gilt zum Beispiel auch für meine Performance „Operation Earnest Voice“ aus dem letzten Jahr – ein Versuch, den Brexit rückgängig zu machen, ihn aufzuheben. Ausgehend von einer systemischen Sichtweise, stellt sie die Frage danach, wie das dahinterstehende System funktioniert, wie man seine Handlungshoheit zurückgewinnt. Das ist eher gestisch intendiert, als dass man tatsächlich zum Akteur wird. Sonst würde ich ja in die Politik gehen, anstatt Kunst zu machen.

Zusammen mit dem Künstler Gabriel Lester hast du die Arbeit „The Fly on the Wall“ konzipiert: Seit einigen Wochen krabbeln Fliegen über die Website der Schirn, dann erschien die Visitenkarte einer Wäscherei mit Telefonnummer, gefolgt von weiteren Pop-Ups. Worum geht es hier?

Gabriel und ich, wir haben schon mehrere Website-Interventionen erstellt, bei denen wir Zugang zur Homepage eines Museums oder einer Institution erhalten und für die Dauer der Ausstellung ein Narrativ konstruieren. Das erste Mal haben wir das für die Ausstellung „The Crime Was Almost Perfect“ im Kunstinstituut Melly in Rotterdam, das damals noch Witte de With Center for Contemporary Art hieß, gemacht. „The Fly on the Wall“ haben wir sehr schnell realisiert, nur wenige Wochen vor Eröffnung der Ausstellung We Never Sleep in der Schirn. Die Arbeit entwickelte sich aus dem Thema Spionage heraus, insbesondere der Frage, was es heute bedeutet, sich online zu bewegen. Kurz gesagt: Wir fragten danach, wie solche Tech-Riesen wie Facebook, Google, Apple oder Microsoft im Grunde alle von ihnen abgeschöpften potenziellen Daten über unser Verhalten sammeln. Und da ist die Fliege an der Wand doch eine sehr treffende Allegorie dafür, wie es sich anfühlt, andauernd ausspioniert zu werden, so als säße eine Google- oder Amazon-Fliege an der Wand, direkt in deinem Wohn- oder Schlafzimmer.

Letzten Endes läuft es auf Informationsasymmetrie hinaus. Das ist meines Erachtens auch das Schlüsselwort, was Spionage ausmacht. Facebook weiß alles über dich, wohingegen wir als Individuen kaum etwas über sie wissen. Das führt zu einem absoluten Ungleichgewicht der Macht. Facebook unternimmt alles in seiner Möglichkeit Stehende, um das Suchtpotenzial zu steigern und uns so lange wie möglich in der App zu halten.

[Es ist] so als säße eine Google- oder Amazon-Fliege an der Wand, direkt in deinem Wohn- oder Schlafzimmer.

Jonas Lund & Gabriel Lester, Fly on the Wall (Screenshot), 2020, Image via https://theflyonthewall.life/

Interessanterweise haben die meisten Besucher*innen der Schirn-Webseite die Fliege nicht mit der Ausstellung in Verbindung gebracht, sondern sich über sie beschwert – einige sagten sogar, sie seien angewidert. Da habe ich mal recherchiert, welche Bedeutung Fliegen eigentlich haben. In der Bibel etwa kündigen Fliegenschwärme eine Katastrophe an. In der Antike und im Mittelalter hieß es, dass Fliegen aus Schmutz entstünden.

Wir haben ja alle unsere persönlichen Assoziationen, ich zum Beispiel hasse Fliegen, sie sind extrem lästig. Keine Ahnung, welchen Nutzen sie haben sollen. Doch das eigentlich Interessante ist: Wenn eine Fliege einfach nur an der Wand sitzt, bemerkt man sie gar nicht. Aber sobald sie sich nähert, geht sie einem unglaublich auf die Nerven. Fliegen sind ekelhaft und übertragen schädliche Bakterien. In meinen Augen ist „The Fly on the Wall“ ein Sinnbild für das, was da an der Wand sitzt – vielleicht ohne dass wir es überhaupt merken. Unsere Herausforderung ist, irgendwie dafür zu sorgen, dass die Besucher*innen sich der versteckten Fliegen von Amazon, Google und der sozialen Medien bewusst werden.

Da du dich intensiv mit dem Thema (Online)-Überwachung beschäftigst, habe ich mich gefragt: Was tust du selbst, um deine privaten Daten zu schützen? Etwa bei den Cookie-Einstellungen.

Ich lehne alle Tracking-Cookies ab. Das ist zwar ziemlich lästig, aber ich exerziere das jedes Mal durch, weil es mich interessiert, auf welche Weise verschiedene Webseiten versuchen, einen zur Akzeptanz aller Cookies zu bewegen. Das ist schon verwirrend. Meiner Ansicht nach ein Beispiel für eine Regulierungsmaßnahme, die nicht richtig gegriffen hat, denn im Prinzip eignet sich die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sehr gut für den Schutz von Daten, allerdings hätte die Voreinstellung, sämtliche Cookies abzulehnen, einmalig in den Browser implementiert werden sollen. Das hätte uns das Leben sehr erleichtert, denn jeder hasst das Cookie-Pop-up-Fenster, wirklich jeder. Selbst wenn man der Verwendung von Cookies nicht zustimmt, ist doch die Identität über Browser-Fingerprinting präzise feststellbar. Es herrscht ein ständiger Wettlauf zwischen Regulierung und Big Tech. Das klassische Motto und der Anfangsslogan von Facebook lautete: „Move fast and break things“ – das ist doch furchtbar. Und der falsche Ansatz.

Oft höre ich Leute sagen: „Ich habe doch eh nichts zu verbergen.“ Wie antwortest du darauf?

Du kannst ja mal nach dem E-Mail-Passwort fragen. Hat die- oder derjenige nichts zu verbergen, dann kann ich doch auch ihre E-Mails mitlesen. Und selbst wenn sie nichts zu verbergen haben, heißt das noch lange nicht, dass ihre Verhaltensmuster eingesetzt werden dürfen, um sie ins Visier zu nehmen.

Das ist wie ein Fluch, wir alle sind ja süchtig nach den Online-Angeboten. Wir kennen die Gefahren und gleichzeitig wollen wir es so genau gar nicht wissen.

Ja, aber wir sind aus einem ganz bestimmten Grund süchtig danach – weil sie süchtig machen sollen. Bei Facebook kümmert sich ein ganzes Team von Psychologen darum, die für eine Art Dopaminausschüttung mit jeder einzelnen Handlung sorgen, die unsere Sucht verstärkt. Man kann doch Einzelne nicht für ihre Abhängigkeit von den sozialen Medien verantwortlich machen, wenn sie diese Expertenteams daran setzen, uns süchtig zu machen.

Entweder du setzt dich damit auseinander, wie diese Systeme dich beeinflussen und steuern oder du wirst von ihnen programmiert.

Jonas Lund

Jonas Lund, Operation Earnest Voice: Brexit Division, 2019, Performance, Installation, Influencing Agency, Image via jonaslund.com

Gibt es einen Aspekt der Online-Überwachung, der dir besonders beängstigend erscheint? Und siehst du auch Anzeichen für eine positive Entwicklung?

Douglas Rushkoff veröffentlichte 2010 sein Buch „Program or be Programmed“. Ich komme immer wieder darauf zurück, denn seine Aussage gefällt mir: Entweder du setzt dich damit auseinander, wie diese Systeme dich beeinflussen und steuern oder du wirst von ihnen programmiert. Das heißt nicht, dass man programmieren lernen muss. Es geht vielmehr darum zu erkennen, wie diese Systeme gewisse Entscheidungen für einen treffen. Und ich finde, es ist besser, du weißt um dein Manipuliert-Werden, als es nicht zu wissen.

Ob es etwas Positives gibt, finde ich schwer zu sagen. Ich bin mir einfach dauernd der Manipulation bewusst. Ich kann keinen dieser Dienste nutzen, ohne diese Gedanken im Hinterkopf. Bei jeder Google-Suche, bei jedem Klick auf Instagram, einfach allem. Ich hoffe, dass es in Zukunft mehr Regulierung geben wird. Die Zerschlagung von Google und Facebook wäre schon einmal ein guter Schritt nach vorn.

Ich glaube, das User-Bewusstsein hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen, für viele aber sind die Prozesse nach wie vor abstrakt. Je größer das Verständnis für die Auswirkungen Folgen, umso besser ist man vorbereitet.

HÖRT DEIN HANDY WIRKLICH MIT?

Welche Gefahren hinter Google, Social Media und Apps lauern und wie wir uns besser schützen können, erklärt Datenschutzexpertin Frederike Kaltheuner in unserem neuen Podcast.

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