Mit bunten Gebärdensprachen-Daumenkinos fördern sie auf spielerische Weise Inklusion: Wir haben die Köpfe hinter dem preisgekrönten Start-up Talking Hands getroffen.

Wir werden vom freundlichen Gebell der beiden Familienhunde empfangen und mit Heißgetränken versorgt. Auf dem meterlangem Holztisch, der die offene Küche mit dem Wohnzimmer verbindet, steht eine Schale mit italienischem Mandelgebäck. Wir sind zu Besuch in Laura Mohns Elternhaus, das sich in einem ruhigen Sachsenhäuser Wohnviertel befindet. Mohn ist hier zusammen mit sieben Geschwistern aufgewachsen – und eigentlich längst ausgezogen.

„Meine Mutter, die Arme, musste uns ihren Keller abdrücken“, erklärt Mohn und lacht. Der Raum dient nun als Lager für die Produkte ihres Start-ups „Talking Hands“. An den Wänden reihen sich fünf Regale aneinander, in denen sich Kisten voller Daumenkinos stapeln – allesamt beschriftet und von „Affe“ bis „Wurst“ alphabetisch sortiert. Mohn zeichnet sie mit dem Finger am Touchscreen ihres Computers. Zurück aus der Druckerei werden sie an drei großen Arbeitstischen verpackt und verschickt.

Die Motive der 8,5 mal 8,5 Zentimeter großen Büchlein: Gesten aus der sogenannten Gebärdenunterstützenden Kommunikation nach Etta Wilken – geschaffen für Kinder, die zum Beispiel das Down-Syndrom haben. Sie sollen ihnen dabei helfen, eine Lautsprache zu erlernen. Keiner der über hundert Charaktere der Daumenkinos gleicht dem anderen. Man sieht, dass Mohn Diversität ein wichtiges Anliegen ist. Einige der gezeichneten Personen wurden mit witzigen Details ausgestattet. Eine Frau etwa, die das Wort „Schwein“ gebärdet, trägt nicht nur einen rosafarbenen Pullover, sondern auch einen Haarschopf in Form eines Ringelschwänzchens.

Foto: Neven Allgeier

„Die Gesten beruhen auf der deutschen Gebärdensprache für Gehörlose, sind allerdings leicht vereinfacht, weil Kinder mit Down-Syndrom in ihren motorischen Fähigkeiten oft noch nicht so weit entwickelt sind“, erklärt Maria Möller, die bei Talking Hands für Marketing und Vertrieb zuständig ist. Zusammen mit Jakob von Bethmann – er kümmert sich um alles, was mit Technik zu tun hat – ist sie die Co-Gründerin des Unternehmens. Eine Praktikantin und eine Werkstudentin gehören ebenfalls zum Team.  

Bei den Daumenkinos handelt es sich um therapeutisches Spielzeug. Im Onlineshop ordern allerdings längst nicht nur inklusive Kitas, Schulen oder logopädische Praxen die Produkte von Talking Hands. „Es geht uns darum, möglichst viele Menschen auf spielerische Weise für ein wichtiges Thema zu sensibilisieren“, erklärt von Bethmann. „Anfangs waren wir selbst überrascht von einigen Aufträgen“, erzählt Möller. „Da wurden zum Beispiel hundert Mal die Gesten für ‚Frohe Ostern‘ oder ‚Frohe Weihnachten‘ bestellt – von Firmen, um sie an ihre Belegschaft zu verteilen.“ Verdächtig oft wird auch nach den Gebärden für „Ich liebe Dich“, „Maus“, „Dein“ und „Mann“ verlangt. In genau dieser Reihenfolge. „Da werden offenbar mit Hilfe unserer Daumenkinos ganze Liebesbriefe geschrieben.“

Da werden offen­bar mit Hilfe unse­rer Daumen­ki­nos ganze Liebes­briefe geschrie­ben.

Maria Möller
Foto: Neven Allgeier

Mohn und Möller haben in Frankfurt Kommunikationsdesign an der European School of Design studiert. Ihr Start-up Talking Hands ging aus Mohns Abschlussarbeit hervor. „Wer früher Gebärdenunterstützte Kommunikation lernen wollte, musste auf Karteikarten zurückgreifen. Aufgezeichnete Pfeile haben die Bewegungen lediglich angedeutet. Das fand ich ein wenig trist“, erinnert sie sich. „Mein erster Gedanke war: Ich mache animierte GIFs für’s Handy. Aber Kleinkinder und Handys – das passt nicht wirklich zusammen. So bin ich auf die Idee mit den Daumenkinos gekommen.“ Die Prototypen schenkte Mohn einer inklusiven Kita. Es ging darum, herauszufinden, ob ihr Konzept funktioniert. Das Feedback war positiv. Aus dem Studienprojekt wurde ein Geschäftsmodell.

Die Prototypen bekam eine inklusive Kita

Gebärdenunterstützte Kommunikation ist für Mohn ein Herzensthema. Das liegt an ihrer ältesten Schwester Jami, die das Down-Syndrom hat. Sie packt im Lager mit an, wo es zurzeit viel zu tun gibt, und schreibt auch schon mal Entschuldigungsbriefe, wenn es wegen der guten Auftragslage zu längeren Wartezeiten kommt. „Wir waren die letzten vier Wochen 20 Stunden am Tag nur mit Packen beschäftigt“, erzählt Möller. „Jede Nacht bis 5 Uhr“, ergänzt Mohn.

Foto: Neven Allgeier

Die große Nachfrage hat vermutlich mit der Vorweihnachtszeit zu tun. Die Daumenkinos eignen sich prima als Geschenke. „Wir sind momentan total im Stress, weil viele Eltern die Adventskalender ihrer Kinder damit bestücken wollen“, sagt Mohn. Außerdem waren Talking Hands in den vergangenen Monaten oft in den Medien präsent. Die Anlässe für die Berichterstattung: Das Start-up hat dieses Jahr den mit 12.500 Euro dotierten Frankfurter Gründerpreis gewonnen. Und: Vor wenigen Wochen waren Möller und Mohn zu Gast in der TV-Sendung „Höhle der Löwen“. Es kam zwar zu keinem Deal – doch die Investor*innen kauften in großem Stil Daumenkinos, um sie an Kitas zu spenden.

Es soll nicht nur bei Gebärdensprachen-Daumenkinos bleiben

„Laura und Maria haben die erste Auflage Daumenkinos komplett mit ihren Ersparnissen finanziert – und die zweite dann aus dem Erlös der ersten. Das Unternehmen ist also organisch gewachsen“, erzählt von Bethmann, der erst seit drei Monaten Teil des Teams ist. „Die Nachfrage war dabei immer größer als die Auflage.“ Mit Hilfe von Investor*innen wollen Talking Hands nun die nächsten Schritte gehen und langfristig vielleicht auch den internationalen Markt erobern. „In anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, spielt Integration noch einmal eine ganz andere Rolle als hier“, sagt Möller. „Die sind dort teilweise schon viel weiter.“ Es soll auch nicht unbedingt nur bei Gebärdensprachen-Daumenkinos bleiben, verrät Möller. Ein Ziel ist es, die Produktpalette zu erweitern. „Wir verstehen uns ganz allgemein als Unternehmen, das Inklusion durch spielerische Lernmethoden fördert. Da gibt es noch ganz viel, was man machen kann.“

Laura Mohn, Foto: Neven Allgeier
Maria Möller, Foto: Neven Allgeier
Jakob von Beth­mann, Foto: Neven Allgeier