Der Übergang zwischen Kunst und Musik ist spätestens seit der Fluxusbewegung der 1960er-Jahre fließend. Davon zeugt auch das SONIC MATTER Festival für experimentelle Musik, das vom 1.– 4. Dezember in Zürich Brücken zwischen experimenteller Musik und bildender Kunst schlägt.

Vier Minuten und 33 Sekunden lang ist das Stück „4′33“ des Komponisten und Künstlers John Cage. Obwohl in der Komposition kein einziger Ton „erklingt“, zählt das Werk bis heute zu den berühmtesten und radikalsten der experimentellen Musik. Damals ein Affront, gilt es heute als Schlüsselwerk der Neuen Musik und der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Cages Experiment bewies: Stille ist eben nicht gleich Nichts. Der Übergang zwischen Kunst und Musik ist spätestens seit der maßgeblich von John Cage beeinflussten Fluxusbewegung der 1960er-Jahre fließend. Wie zeitgenössische Kunst klingen kann, zeigte 2019 auch die Ausstellung „Big Orchestra“ in der SCHIRN, welche die Kunsthalle im performativen Spiel mit skulpturalen Instrumenten in einen temporären Konzertsaal verwandelte. 

John Cage: 4'33'' / Petrenko · Berliner Philharmoniker

Auch das diesjährige SONIC MATTER Festival für experimentelle Musik bewegt sich zwischen diesen Grenzen. Entspringen, aufsteigen, wachsen, aufbegehren – unter der Losung „Rise“ startet am ersten Dezemberwochenende die zweite Ausgabe des noch jungen Festivals in Zürich. Neben Konzerten, Performances und Installationen steht ein vielfältiges Programm auf dem Plan, das sich Themen wie der Erinnerung und alternativen Formen der Geschichtsschreibung widmet. Fern des klassischen Konzertbetriebs darf hier erkundet, gelaufen, gesprochen, getanzt und zugehört werden. Die musikalische Klammer fasst Erzählungen und Geschichten von Herkunft, Identität, Grenzüberschreitungen und Widerstand zusammen und richtet einen besonderen Blick auf die Regionen Subsahara-Afrikas.

Ausstellungsansicht: Tarek Atoui, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2019, Foto: Marc Krause
Tarek Ataoui, Iteration on drums #2, 2016, Tarek Atoui (c) printemps de septembre, Foto: Franck Alix
Klänge wie Meereswogen

Im Eröffnungskonzert „Phlegra" begegnen sich am 1. Dezember Kompositionen von Iannis Xenakis und Laure M. Hiendl, die ganz unterschiedliche musikalische Landschaften entwickeln. Direkt am Zürichsee gelegen, könnte die Rote Fabrik wohl auch deshalb kein passenderer Spielort sein. Denn mit etwas Glück lassen sich zwischen bewegtem Stillleben und heterogener Klanglandschaft sogar die Alpen erkennen.

Ein wahres Konzerthighlight bildet indes der Konzertzyklus „Occam Océan" von Éliane Radigue, die als Wegbereiterin der elektronischen Musik gilt. Bereits in den 50er-Jahren behauptete sich die heute 90-jährige Französin mit ihrem modularen Synthesizer in einer Männerdomäne. Doch 2001 legte die Grande Dame der elektronischen Musik ihren Synthesizer zur Seite und erschuf gemeinsam mit Instrumentalist*innen ein beeindruckendes Orchesterwerk: „Occam Océan" ist der Titel einer Programmiersprache und gleichzeitig ein Experiment, elektronischen Sound auf akustische Instrumente zu übertragen. Inspiriert durch ein Bild elektromagnetischer Wellen, widmet sich Éliane Radigue hier der Betrachtung einzelner Töne mit der Frage: Welche Rolle spielt der einzelne Klang im Gesamtgefüge? Eine besondere Herausforderung für die Musiker*innen, denn Noten gibt es für dieses Stück nicht. Der Titel „Occam Océan" ist dabei nicht zufällig gewählt. Wie Meereswogen fließen die Klänge ineinander über oder türmen sich wie Wellen langsam auf. Éliane Radigue schafft mit diesem Konzertzyklus nicht nur ein Hörerlebnis, sondern auch ein beeindruckendes Klangbild. Kein Wunder also, dass „Occam Océan" vornehmlich in Museen wie dem Centre Pompidou oder dem Louvre in Paris aufgeführt wurde und nun am 3. Dezember im Rahmen des Festivals im Museum für Gestaltung in Zürich zu erleben ist.

Artwork by Éliane Radigue's Late Husband, Arman (c) ADAGP, Paris, 2019. Image via purple.fr

Eliane Radigue : Occam Ocean Hepta 1 - Ensemble DEDALUS - CROSSROADS / SEM 60
Postkoloniale Erinnerungsräume

Wie können Geschichten erzählt werden, die nicht aufgeschrieben wurden? Das Duo Listening at Pungwe, bestehend aus Memory Biwa und Robert Machiri, begibt sich in dem Projekt „A Third Hour Ear Worm“ am 4. Dezember auf eine interdisziplinäre Spurensuche. Klangvolle Zeugnisse finden sie im Austausch mit Menschen, in überlieferten Riten und Objekten oder in Phonotheken. Abseits der kolonial geprägten Geschichtsschreibung werden die klanglichen und bildlichen Überlieferungen aus Namibia und Simbabwe zu einem multimedialen Erinnerungsraum gesponnen. Auf die Auswirkungen kolonialer Gewaltherrschaften bezieht sich auch der Name des Duos selbst: Pungwe, auf Shona „Nachtwache“, diente in der Zeit der Kolonialherrschaft in Simbabwe als ein Ritual während der Widerstandskämpfe. „Listening at Pungwe“ ist also auch als Aufforderung zu verstehen, nicht einfach zu rezipieren, sondern sich bewusst hörend in Erinnerungen zu vertiefen.

Listening at Pungwe (c) Thabo Thindi

Denn Musik und Kunst spielen eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur – viel zu oft sind diese jedoch von Herrschaftsstrukturen geprägt. Wie können Klänge (neue) Erinnerungsräume schaffen? Auch der marokkanische Künstler Abdellah M. Hassak setzt am 2. Dezember in „A Symphony Of Archives“ der westlich dominierten Geschichtsschreibung eine dekoloniale Perspektive entgegen. Die von Zaira Oram kuratierte Arbeit erforscht audiovisuelle Archive, Tagebücher und Klänge von Regionen und Räumen. Die dabei gesammelten Erinnerungen werden unter Berücksichtigung kolonialer Handlungen neu gelesen.

Abdellah M. Hassak (c) the artist
Zwischen Experiment und Tanzbarkeit

Menschen, Baustellen, Verkehr – so klingen für uns viele Städte. Dass in Mauern, Winkeln und Hinterhöfen weit mehr steckt, beweist der Klangparcours „Shift in Motion“ der Tänzerin und Musikerin Annalisa Derossi. Tänzerisch erkundet sie am 3. Dezember die Straßen Zürichs und richtet in ihrem Audiowalk den Blick auf die Geschichte des einst militärisch genutzten Kasernenareals. 

Der traditionelle Älplerruf wird wiederum zum Ausgangspunkt des Abschlusskonzerts „Limbo und Alpsegen“. Die Faszination für den Alpsegen hat sicher auch mit dem besonderen Klang der Bergwelt zu tun, denn hier trifft der Schall auf besonders viele Hindernisse: Steile Felswände reflektieren Schallwellen, die an ihren Ursprungsort zurückkehren. Zwischen immersiver Installation und begehbarer Performance breitet sich am 4. Dezember zum Ende des Festivals das Bergecho als Abschiedssegen in einem audiovisuellen Verwirrspiel aus.

Annalisa Derossi, Foto: Ernst Scholl

Und auch Freunde der elektronischen Tanzmusik kommen bei SONIC MATTER auf ihre Kosten, genauer bei der Party Border Line Club Culture  am 3. Dezember in der Gessnerallee. Hier trifft Freeform Rap & Noise auf Kongo-Techno und Afrobeat mit Live-Perkussions. Wer nicht mehr tanzen mag, ruht sich später in der Hörlounge WeicheKissenHeisseOhren aus und lauscht Kompositionen der Zürcher Musikszene.

Als Nachfolgefestival der Tage für Neue Musik Zürich, versteht sich das SONIC MATTER neben dem viertägigen Festival auch als eine fortlaufende Plattform für Künstler*innen aus der experimentellen und zeitgenössischen Musik. Das SONIC MATTER_radio beispielsweise sendet das ganze Jahr über und begreift sich als Informationsträger für das Festival und als Kunstradio. Wer neugierig ist und auch unabhängig vom Festival in Zürich mal experimenteller, mal tanzbarer Musik lauschen möchte, sollte hier unbedingt reinhören – und vielleicht doch noch einen spontanen Wochenendtrip nach Zürich wagen.

Dixence, Waliss (c) Maria Trofimova

Das SONIC MATTER Festival für experimentelle Musik

Vom 1.–4. Dezember in Zürich

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