Der polnische Künstler Paweł Althamer findet immer neue Wege, sein Publikum zu irritieren. Sein Selbstporträt in der Ausstellung ICH zeigt alles von ihm bis ins kleinste Detail – nur der Künstler selbst fehlt.

Wahrscheinlich staunten die Professoren der Akademia Sztuk Pięknych in Warschau, als sie 1993 die künstlerische Abschlussarbeit von Paweł Althamer zu Gesicht bekamen: Der angehende Künstler war nämlich abwesend. Stattdessen wartete ein hyperrealistisches, lebensgroß aus Wachs und Haaren gefertigtes Selbstporträt Althamers auf die Professoren. Ein Video zeigte zudem, wie Althamer das Akademiegebäude verlässt, sich in den Wald begibt, wo er „ein Zwiegespräch mit der Natur“ führt.

Paweł Althamer, Image via artmuseum.pl

Auch wenn er sich bisweilen klassischer skulpturaler Techniken bedient, ist Paweł Althamer kein  Bildhauer im engeren Sinne. Sein Œuvre umfasst auch Performances und Happenings, Videos und Installationen. Selbstporträts und Selbstinszenierungen finden sich immer wieder im Werk des 1967 in Warschau geborenen Künstlers. 1991 kleidete sich Althamer in einen weißen Anzug und setzte sich für zwei Stunden in die klirrende Winterkälte – ein Selbstporträt als Schneemann gewissermaßen. 

Einen unbekannten Planeten entdecken 

Als Geschäftsmann verkleidet, performte Althamer 2002 in der Nähe des Sony Center am Potsdamer Platz in Berlin. Stück für Stück entledigte er sich dabei der identitätsstiftenden Utensilien eines Angestellten: Anzug, Mobiltelefon und Aktentasche. 1995 lief der Künstler in einem selbstgemachten Raumanzug durch die polnische Stadt Bydgoszcz, seine Umgebung mit einer Videokamera aufzeichnend, gleichsam einen unbekannten Planeten entdeckend.

Pawel Althamer, Wspólna sprawa/Common Task, 2008 – present, Image via db-artmag.de

Ein neuer Blick auf Alltagsroutinen prägte auch Althamers Beitrag für die Skulptur Projekte Münster im Jahr 2007. Althamer legte einen Pfad an, der an einer Kreuzung von Fußgänger- und Fahrradwegen in einem Münsteraner Naherholungsgebiet begann, über Wiesen und Felder aus der Stadt heraus führte, und nach etwa einem Kilometer abrupt in einem Gerstenfeld endete. In Münster beobachtete Althamer zuvor, wie korrekt sich Fußgänger und Radfahrer an die Trennung der jeweiligen Wege halten. Das deutsche Vertrauen in Regeln und Ordnung wollte der Künstler mit seinem Pfad infrage stellen. Am Ende des Pfades angekommen, fand sich der Besucher in einer irritierenden Situation wieder. 

150 Gleichgesinnte in goldfarbenen Ganzkörperanzügen 

Oft bewegt Paweł Althamer Menschen, die außerhalb der Kunstwelt stehen, zur aktiven Teilnahme an seinen Aktionen. Für sein Projekt „Astronaut 2“ zur Documenta 10 in Kassel (1997) engagierte Althamer einen obdachlosen Mann, der für die Dauer der Ausstellung in einem umgebauten Anhänger leben sollte. Der teilweise für Besucher zugängliche Anhänger wurde vor der Orangerie aufgestellt. In Kassel wiederholte Althamer zudem seine Raumfahrer-Performance von 1995. Ihre Aufzeichnung war im Wohnanhänger zu sehen.

Pawel Althamer, Path, 2007, Münster, Image via pietmondriaan.com

Im Rahmen der Gruppenausstellung „Neue Welt“ im Frankfurter Kunstverein (2001) lud Althamer Migranten ein, als fein gekleidete Kuratoren zur Eröffnung zu erscheinen, um so eine Irritation eingespielter Abläufe zu erreichen. 2012 reiste Paweł Althamer in die weißrussische Hauptstadt Minsk, wo er mit etwa 150 Gleichgesinnten in goldfarbenen Ganzkörperanzügen und Masken durch die Straßen lief, bevor die Aktion von der Polizei gestoppt wurde. Auch hier spielt Althamer mit den Grenzen der Akzeptanz. 

Der Künstler ist abwesend 

So kann auch das Selbstporträt von 1994, das in der Ausstellung ICH zu sehen ist, irritierend wirken. In eine Plastikfolie verpackt, besteht es aus den Kleidern und persönlichen Gegenständen des Künstlers. Alles, was der damals 27-jährige Althamer an seinem Körper trug, ist in das Selbstporträt eingeflossen, auch Gürtel, Brille und Unterhose fehlen nicht. Bei näherer Betrachtung erblickt man Althamers Uhr, seinen Schlüsselbund und den Personalausweis, den der Künstler neu beantragen musste, sowie einige Geldscheine, die vom Nationalstolz des damals erst seit wenigen Jahren wieder unabhängigen Polens künden.

Paweł Altha­mer, Selbstporträt (Kleidung), 1994, Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Norbert Miguletz, 2016

Wie eine Häutung wirkt dieses Werk. Althamer lässt scheinbar seine Kleider und Gegenstände zurück, um neu zu beginnen, um eine neue Identität aufzubauen. In Zeiten massenhafter Flucht und Migration erscheint der Gedanke eines solchen Neuanfangs nicht ungewöhnlich. Das Selbstporträt verrät viel über seine Entstehungszeit und erlaubt einige Rückschlüsse auf Althamers damaliges Leben. Es verweist auf den Porträtierten, ohne ihn abzubilden. Der Künstler selbst ist abwesend, aber das war er ja auch schon bei seiner Abschlussprüfung.