Zwischen Kontemplation und Gewalt: Das Meer in der bildenden Kunst
29.12.2025
10 min Lesezeit
Wie für Stephanie Comilang ist das Meer auch für viele andere Künstler*innen ein Spiegel vielschichtiger gesellschaftlicher Themen – angefangen beim bedrohten Ökosystem, dem (Post)Kolonialismus, über Exilerfahrungen und indigene Traditionen bis hin zum globalisierten Welthandel. Hier sind fünf Kunstwerke aus den letzten hundert Jahren, die Sie kennen sollten.
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In ihrem filmischen Diptychon „Search for Life“ inszeniert Stephanie Comilang die Suche nach Leben als eine Art Collage, die Realität und Fiktion, menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen sowie Geschichte und Gegenwart verbindet. So führt die Künstlerin tief in die Kulturgeschichte ihrer philippinischen Wurzeln zurück und lässt von dort aus ein globales, intergenerationelles und posthumanistisches Netz aus ineinanderfließenden Erzählungen entstehen, die das Meer als zentralen Schauplatz für soziokulturelle Praktiken, Migrationsbewegungen und das globalisierte Wirtschaftssystem herausstellen: Die einsame Lebensrealität philippinischer Seeleute im internationalen Handel trifft in „Search for Life I“ so etwa auf die Figur des Monarchfalters, der während seiner Herbstmigration eine Strecke von Kanada bis nach Mexiko zurücklegt und damit als Sinnbild für Migrationsbewegung und Transformationskraft fungiert. Zugleich erinnern Schmetterling und Seefahrt auf assoziative Weise an die koloniale Vergangenheit der Philippinen, die bis heute nachwirkt. In „Search for Life II“ wird das Perlentauchen der Sama-Bajau, eine Jahrhunderte alte Tradition der indigenen Bevölkerung der Philippinen, wiederum mit individuellen Migrationserfahrungen und Aufnahmen vom Burj Khalifa als Symbol des Reichtums, Öl- und Perlenhandels verknüpft. So zeichnet Comilang verschiedenste internationale Verbindungs- und ökonomische Trennungslinien entlang der Ozeane nach, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart changieren. Sie assembliert lose Narrative aus dokumentarischen Porträts, autobiografischen Akzenten und völlig fiktiven Elementen. Dabei durchdringen Träumereien, Melancholie und Spiritualität immer wieder die Härte der gezeigten sozialen Realitäten und globalen Machtverhältnisse und reihen sich wie scheinbar freie Assoziationen aneinander. In Wirklichkeit ist die filmische Komposition jedoch genauso feinsäuberlich aufgezogen wie die Tausenden von synthetischen Perlen, auf die „Search for Life II“ im Ausstellungsraum projiziert wird.
Stephanie Comilang reiht sich mit diesem eindringlichen Werk in eine reiche Traditionslinie internationaler Künstler*innen ein, welche die verschiedensten soziokulturellen, ästhetischen und spirituellen Strömungen erkunden, die unsere Blicke und Körper immer wieder raus in die Wellen tragen. Hier sind fünf Kunstwerke aus den letzten hundert Jahren, die Sie kennen sollten.
1
Max Beckmann „Abfahrt“ (1932–1935)
In der Mitteltafel des Triptychons „Abfahrt“ inszeniert Max Beckmann das Meer als ruhig und regungslos daliegenden Gegenpol zu dem Chaos und der Gewalt, die sich auf den Flügeltafeln abzeichnen. Beckmann begann das Werk im letzten Jahr der Weimarer Republik in Frankfurt am Main, bevor er 1933 zuerst nach Berlin und vier Jahre später dann ins Amsterdamer Exil floh. Noch in Deutschland musste er dabei zusehen, wie das nationalsozialistische Regime seine Arbeiten in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ diffamierte.
In diesem Kontext wird „Abfahrt“ oft als eine Art dunkle Vorhersehung gelesen, welche die blutige Verfolgung politischer Gegner*innen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Form der sadistischen Folter auf den Flügeltafeln des Triptychons vorausgreift. Die dort dargestellten Figuren zeigt der Maler gefesselt, geknebelt und gepeinigt als Teil einer eklektischen, unruhigen Komposition aus gekipptem Stillleben, magischer Kristallkugel und schief aufragender Architektur. Dies steht im starken Kontrast zu dem Bildgeschehen der Mitteltafel, auf der das gradlinige Blau aus Himmel und Meer lediglich durch ein einzelnes Boot bevölkert wird, das als Bühne für einen fischenden König, seinen Leibwächter und die Königin mit ihrem Kind dient. Obwohl Beckmann sich Zeit seines Lebens gegen eindeutige Interpretationen seiner Werke wehrte, erklärte er, dem Königspaar im Zentrum der Komposition sei die Flucht gelungen, während der große Schatz der Freiheit als nacktes Kind im Schoße der Mutter liege.
Das Meer, das Beckmann im Exil immer wieder malte, zeigt sich in dem Triptychon folglich als Sinnbild für einen Abschied ins Ungewisse, eine Flucht ins Blaue, aber auch als Wegweiser für einen Neuanfang. Ein Neuanfang jedoch, der einzig im Exil zu finden war.
2
Betty Beaumont „Ocean Landmark“ (1978–1980)
Ende der 1970er-Jahre arbeitet auch Betty Beaumont an einem Neustart für die Unterwasserwelt vor der Küste New Yorks. In Zusammenarbeit mit Taucher*innen, Chemiker*innen, Meeresbiolog*innen und Ingenieur*innen entwickelte die kanadisch-amerikanische Künstlerin über mehrere Jahre hinweg ein Kunstwerk, das alsbald auf den Grund des Atlantiks sinken sollte.
Dafür verarbeitete Beaumont gemeinsam mit ihrem interdisziplinären Team 500 Tonnen Kohleabfälle der umliegenden Industrie in ein künstliches Korallenriff, das die Folgen der lokalen Überfischung und des giftigen Industriemülls bekämpfen sowie einen nachhaltigen Lebensraum für das maritime Ökosystem bilden sollte. Das Projekt wurde so erfolgreich, dass die US-amerikanische Behörde für Ozeanografie und Atmosphärische Administration „Ocean Landmark“ in seiner Küstennavigationskarte als sogenannten „Fish Haven“ (Fischhafen) führt.
Die Künstlerin schuf somit ein Werk im und für das Meer, das für den Mensch nur in seinen ökologischen Auswirkungen erfahrbar wird. Beaumont sensibilisiert damit nicht nur für die Art und Weise wie industrielle Aktivitäten die Meere weltweit bedrohen, sondern zeigt zugleich, wie zukunftsweisende Innovationen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft das Potenzial haben, Meeresschutz und Wirtschaftlichkeit in Einklang zu bringen.
3
Grada Kilomba „O Barco“ (2021)
Eine zentrale Rolle spielt der Atlantik in Grada Kilombas interdisziplinären Installation „O Barco“, welche den Opfern des transatlantischen Sklavenhandels gedenkt. Kilomba konzipierte das Werk im Rahmen der BoCA (Biennale für Zeitgenössische Kunst) in ihrer Heimatstadt Lissabon, wo es 2021 zum ersten Mal an der Mündung des Tejos zu sehen war. Damit errichtete die Künstlerin das abstrakt-poetische Mahnmal an einem Ort, an dem sich die portugiesische Kolonialgeschichte in Form von prunkvollen Bauten, Denkmälern und Museen noch immer stolz über die Köpfe der Menschen erhebt.
In „O Barco“ erstreckten sich hingegen horizontal in einer Formation 140 rabenschwarz verkohlte Holzquader, die das knochige Gerippe eines Sklavenschiffes skizzierten und gleichzeitig auf die menschliche Fracht in ihrem Inneren verwiesen. Diese bestand über drei Jahrhunderte lang aus eng aneinandergepressten und übereinandergestapelten Schwarzen Körpern, die europäische Seefahrer dem afrikanischen Kontinent raubten und auf den amerikanischen Doppelkontinent verschleppten. Anklagend zeigt der Bug „O Barcos“ gen Atlantik, zwischen dessen kalten Wogen die westliche Sklavenwirtschaft die Menschlichkeit und Identität ihrer afrikanischen Gefangenen schluckte, um sie am Ende der Überfahrt als Ware wieder auszuspucken.
In Kilombas Händen wird das Boot – und mit ihm das Meer – zu einem Zeitzeugen dieser Gräueltaten, aber auch zu einem Symbol der Heilung. So sind mehrere der Quader mit einem Gedicht versehen, das in seinem Inhalt und seiner Mehrsprachigkeit (u. a. ist es auf Yoruka, Kimbundu, Creole, Portugiesisch, Englisch und Arabisch zu lesen) einen universellen Humanismus beschwört. Darüber hinaus gedachte die Künstlerin den Seelen der Verschleppten, indem sie Performer*innen in drei Akten durch das Schiffsgerippe tanzen ließ.
4
Shneider Léon Hilaire „Healing by the Power of Agwé“ (2022)
Eine Annäherung daran, wie das salzige Gewässer einst unabhängig vom Kolonialismus wahrgenommen und wertgeschätzt wurde, verbildlicht der haitianische Maler Shneider Léon Hilaire in seiner Werkreihe „Nuits haïtienne“ (haitianische Nächte).
Die haitianische Kosmologie des Vodou begreift das Meer als eines der mächtigsten Naturgewalten und sieht in ihm eine Vielzahl an einflussreichen lwa (Geistern) angesiedelt. Einen der bedeutendsten unter ihnen – Agwe, der Schutzpatron der Seefahrenden – ruft Shneider Léon Hilaire in „Healing by the Power of Agwe“ an. Vor einem düsteren Wolkenhimmel ist dieser lwa aus dem weißen Meerschaum aufgestiegen und thront nun als streng dreinblickender weißer Umriss auf der senkrechten Mittelachse des Bildes. Ein schlichtes Zepter in der Hand und durch einen Kopfschmuck aus Muscheln und Meeresschnecken bekrönt, blickt er auf eine ältere Frau, die einen zusammengekauerten jungen Mann mit ihren Beinen schützend umschließt. Vielleicht ist sie eine besorgte Mutter, die Agwe angerufen hat, um ihm um eine Sicherheit für ihren Sohn auf hoher See zu bitten.
Hilaires Werk, das immer wieder auch Meereschlangen, Meerjungfrauen und nächtliche Vodourituale am Strand zeigt, illustriert damit die spirituelle Kraft, die die Ozeane bergen und mit den Wellen immer wieder ans Land tragen.
5
John Akomfrah „Listening All Night to the Rain“ (2024)
Einige dieser soziopolitischen, kulturhistorischen und spirituellen Konnotationen des Meeres treten im Werk John Akomfrahs so stetig in Erscheinung wie der rhythmische Wechsel von Ebbe und Flut. Die Gewässer spielen schon immer eine zentrale Rolle in den filmischen Installationen des britisch-ghanaischen Filmemachers.
So zogen sich die weißschäumenden Wellen durch alle drei Werke der Retrospektive „A Space of Empathy“, die 2023 in der SCHIRN gezeigt wurde. Mearg Negusse beschrieb damals das breite Netz an Assoziationen, Geschichte(n) und Ökologien, welches das Meer besonders in der monumentalen Multiscreen-Installation „Vertigo Sea“ birgt. Zur gleichen Zeit arbeitete Akomfrah bereits an seinem nächsten und bisher größten Epos über das blaue Element: Für die 60. Biennale di Venezia verwandelte er die neoklassizistische Architektur des britischen Pavillons in ein immersives audio-visuelles Gesamtkunstwerk. In acht Cantos unterteilt, trat Besuchenden ein Meer aus historischen Tonmitschnitten, atemberaubender Naturdokumentation und meditativer Regengeräusche entgegen. Dabei verarbeitete das ambitionierte Werk nicht nur mehrere Stunden Video- und Tonmaterial, sondern auch eine Flut an Themen, Geografien und Historie: Die Freiheitskämpfe Vietnams, Kenias und des Kongos werden ebenso verhandelt wie der Korea-Krieg, die Migration während des sogenannten Windrushs und der wegweisende Kampf für den Klimaschutz durch die amerikanische Naturschützerin Rachel Carson (1907–64). Inhaltlich verbindet, begleitet und umschließt das Motiv des Wassers diese Ereignisse. Dabei versteht Akomfrah das Meer als eine Art Behältnis, das unsere Vergangenheit birgt und unsere Gegenwart auf uns hinabregnen oder über uns hereinbrechen lässt.
Dem Plätschern, Rauschen oder Tosen des Wassers zuzuhören, beschreibt Akomfrah als Quell des Weges in eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft – eine Perspektive, die auf unterschiedlichste Weisen in den hier zusammengestellten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Meer verwirklicht wird.

