Junge Talente auf der Suche nach dem ‚wilden Jenseits‘
20.05.2025
9 min Lesezeit
Wie begegnen angehende Künstler*innen den Konventionen des Kulturbetriebs? Antworten finden wir beim „Plurale“-Festival in Kassel. Bis zum 25. Mai zeigt das Festival für junge Talente Installationen, Performances und hochschulübergreifende Projekte jenseits tradierter Sehgewohnheiten.
„Listening to cacophony and noise tells us that there is a wild beyond to the structures we inhabit and that inhabit us”
Jack Halberstam
Lorem Ipsum
Die Luft in der documenta Halle ist ziemlich dünn, als ich sie kurz vor der feierlichen Eröffnung des 11. Festivals für junge Talente betrete. Zwischen das Stimmgewirr der neugierigen Gäste mischt sich das aufgeregte Rumoren der Künstler*innen, die noch eine letzte Schaufel Erde bewegen, zum x-ten Mal kontrollieren, ob auf wirklich allen Screens kleine Tierchen tanzen oder der Lautsprecher den Raum schon mit Schnarchen erfüllt. So hört sich also der kreative Dialog an, den der Zusammenschluss aus sieben Kunsthochschulen und Universitäten aus Hessen und Mainz durch die Kommunikation und Kollaboration verschiedener Projekte unter dem neuen Titel „Plurale“ orchestrieren wollte. Dazu brachte er 83 Studierende in 25 hochschulübergreifenden Projekten zusammen, denen (fast) keine kreativen Grenzen gesetzt wurden. Die einzige Vorgabe der Kurator*innen des Festivals:
Im Zusammenspiel der Expertisen in bildender Kunst, Musik und darstellendem Spiel sollten Werke entstehen, die sich jenseits tradierter Rezepte, Konventionen und Sehgewohnheiten bewegen. Das Ergebnis dieser Anstrengung erlebe ich im Sinne Jack Halberstams als produktive Kakofonie, die sich traut, Unsagbares auszusprechen und die schrägsten Töne anzustimmen, um so einen Blick hinter die Normen und Strukturen zu werfen, die unsere Gegenwart bestimmen.



Weiße Wunschgärten & Blaumachen
So eröffnet sich mir einer der kleineren Seitenräume, die von der großen Haupthalle abgehen, im ersten Moment mit seinen weißen Wänden wie der stereotype White Cube einer durchschnittlichen Galerie. Statt ein vermeintlich neutrales, ahistorisches Vakuum, betrete ich mit der Rauminstallation „Gruß aus dem Park“ jedoch eher einen skurril verwunschenen Kunstgarten. In diesem tummeln sich große Holzkugeln statt krabbelnder Tierchen, während ein filigranes Gebilde aus Porzellan wie eine einzige, monumentale Seerose ohne Teich auf dem Boden schwimmt. Bäume gibt es in der minimalistisch komponierten Landschaft nicht, nur ein Fernglas, das an einem Stativ aus dem Boden wächst. Der Blick durch dieses weist aus dem fantastischen Park, quer durch die Halle auf das satte Grün einer vorgelagerten Parkanlage.
Egor Miroshnichenko, Ella Pechechian, Anna Penn, Lara Finkenstädt, Imaan Sattar & Yuxiu Xiong, Frej Himmelstrup, Emmilou Roessling, Evelyn Roh und podklet halten ihre Installation hingegen in gedämpften, für einen Park ziemlich unwirklichen Tönen: viel Weiß, hier und da ein Tupfen Ultramarinblau, Violett oder Kupferbraun. Das Projekt eröffnet dadurch nicht nur Fragen nach dem Natürlichen in der Natur unserer durchgeplanten Kulturlandschaften, sondern durchleuchtet in den ästhetischen Anklängen zur Kunstwelt den Park auch als soziales Gebilde und anthropologische Praxis.



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Eine mit blauem Samt behangene Trennwand ragt schräg in denselben Saal hinein und kreiert so einen Raum im Raum, in dem sich das Projekt „Lazy Era“ ähnlich fantasiereich mit dem Menschen beschäftigt. Dabei bringt ein dezenter, himmelblauer Stoffbaldachin die sonst so übermannenden Decken der Halle auf ein intimes Niveau hinunter, während ein eigensinniger dreiarmiger Leuchter den Innenraum in ein warmes Licht tränkt. Halbseitig mit einem weiteren Wandbehang in unregelmäßigem Patchworkmuster verkleidet und mit zwei großen, weichen Sesseln, die mit recycelten Jeans gepolstert wurde, ausgestattet, fühlt es sich hier ein bisschen an wie in einem wohnlichen Kokon. Doch auch wenn der einlullende Mix aus White Noise, Vogelzwitschern und Schnarchgeräuschen zum Verweilen und Faulenzen einlädt, scheuen Sina Ebert, Viola Gerber, Lejla Jakupović, Charlotte Kreiß, Rabika Hussain und Max Zimmermann nicht davor, Unangenehmes anzusprechen. Macht man es sich auf einem der Sessel bequem und zieht die bereitliegenden Kopfhörer auf, so ist man unweigerlich mit den politischen Dimensionen von Faulheit und Arbeit konfrontiert:
Ich höre AfD-Politiker im Bundestag gegen vermeintlich faule Migranten hetzen, die den Sozialstaat ausnähmen und Fleiß unattraktiv machten, bevor eine quietschig hochgepitchte Stimme dieses Narrativ sogleich durch ihre eigene Familiengeschichte widerlegt. Sie weiß, dass sie als Braune Frau drei Mal so hart arbeiten muss, um halb so viel Anerkennung von der weißen deutschen Dominanzgesellschaft zu bekommen und erzählt von ihrem migrantisierten Vater, der lieber bis zum körperlichen Verfall ackert, als einen Cent von Rassismus befleckter Sozialleistung anzunehmen. Faulheit wird so paradoxerweise zum Privileg und zur antikapitalistischen Entzugsstrategie zugleich.



Ungewollte Erde & viele kleine Stiche
Eines der vielen Wandlabels, die auf der ganzen Ausstellungsfläche verteilt sind, eignet sich den Diskurs in „Lazy Era“ an, um trocken zu kommentieren: „Too tired to read about art. Sometimes I try to read museum labels and I just drift off midsent…” Kora Riecken und Silas Edwards spielen in „Writing on the Wall” gekonnt mit dem Format der uns so vertrauten Wandschilder, die Besuchenden die Werke in musealen Ausstellungen näherbringen sollen. Scharfsinnig und mit viel Humor tuscheln die Texte über historische und brandaktuelle Skandale aus der Kunst, parodieren die Selbstgefälligkeit der Kunstwelt und gewähren vielleicht aufrichtig intime, vielleicht völlig fiktive Einblicke in das Innenleben der Autor*innen. Besonders als „Stairway #3“ die sprachliche Effekthascherei so mancher Kurator*innen persifliert, indem es eine gewöhnliche Betontreppe in der documenta-Halle mit großen, hochtrabenden Worten zu einer hochkomplexen, ortsspezifischen Installation umdeutet, muss ich hämisch kichern.



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Ganz andächtig still bin ich hingegen, als ich kurz darauf für „Children of Soil“ auf dem Boden kniee und mein Ohr vorsichtig an einen circa 10 Meter langen Erdwall lege. Im ausgelassenen Treiben der Eröffnungsnacht wird die riesige Halle zu einem stark hallenden Klangkörper, der jedes Gespräch und Gelächter sowie jedes Klopfen, Ticken oder Surren der vielen auditiven Installationen zu einer zähen Masse verbindet. Um in dieser konstruktiven, kreativen und dennoch etwas schwindelerregenden Kakofonie das Leben der Erde zu hören, das Yujin Park, Nicholas Okunowski und Jonas Harksen mit einem Bodenmikrofon auf Ackern, in Komposthaufen und Waldböden aufgenommen und in der aufgehäuften Erde versteckt haben, muss diese mir folglich direkt ins Ohr flüstern. Eigentlich perfekt, für eine Arbeit, die der Erde mehr Selbstwirksamkeit zugestehen und den Menschen intimer an sie heranführen will!



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