Jetzt in der SCHIRN: Suzanne Duchamp. Retrospektive

Suzanne Duchamp, Fabrique de Joie (Fabrik der Freude), 1920, Gouache, Aquarell, Bleistift und Tinte auf Papier, 44 × 54 cm
Privatsammlung; Courtesy Galerie 1900-2000, Paris / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Die SCHIRN zeigt in der umfassenden Retrospektive der Dada-Pionierin Suzanne Duchamp ab dem 10. Oktober die innovative Eigenständigkeit, kreative Freiheit und den rätselhaften Humor der Künstlerin.

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Die SCHIRN widmet Suzanne Duchamp (1889–1963) vom 10. Oktober 2025 bis zum 11. Januar 2026 die weltweit erste umfassende Einzelausstellung in Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich. Präsentiert wird das vielseitige, 50 Jahre umfassende Schaffen dieser Künstlerin, die in den 1910er- und 1920er-Jahren zur Entwicklung des Dadaismus beitrug. Obwohl Duchamps Werke in weltbekannten Sammlungen vertreten sind und sie zu Lebzeiten bestens in Kunstkreisen vernetzt war, blieb ihre künstlerische Bedeutung lange im Schatten ihrer Brüder Marcel Duchamp, Raymond Duchamp-Villon und Jacques Villon sowie ihres Ehemanns Jean Crotti.

Die Retrospektive zeigt rund 80, teils durch aufwändige Recherchen wiederentdeckte Werke, darunter experimentelle Collagen, figurative Darstellungen, abstrakte Gemälde, Fotografien und Drucke, sowie Archivfunde. Sichtbar werden in der Zusammenschau ihre künstlerische Eigenständigkeit und Freiheit. Im Fokus der Ausstellung stehen insbesondere Duchamps innovativer Umgang mit Materialien und Medien sowie ihr breites künstlerisches Spektrum, das sich kunsthistorischen Kategorien oftmals entzieht. Humor und Rätselhaftigkeit verleihen Duchamps Kunst ihren charakteristischen Tonfall. Ab Mitte der 1910er-Jahre schuf sie in der Kombination von Aspekten des Readymade, poetischen Inschriften und geometrischen Formen eine für den Dadaismus einzigartige, subtile Bildsprache. Neben ihren Dada-Arbeiten beleuchtet die Ausstellung Duchamps frühe kubistische Interieurs und Stadtlandschaften, ihre figürlichen Gemälde mit oftmals ironischen Untertönen, die Landschaften der 1930er- und 1940er-Jahre sowie ihr nahezu abstraktes Spätwerk.

Eine Frau sitzt entspannt auf einer Mauer, trägt ein gestreiftes Top und weite Hosen, umgeben von Natur.
Suzanne Duchamp assise sur un balcon [Suzanne Duchamp sitzt auf einem Balkon], 1925
Association Marcel Duchamp

Frühwerk und Anfänge in der Avantgarde

Ab 1911 trat Suzanne Duchamp in ersten namhaften Pariser Ausstellungen in Erscheinung. In ihrem Frühwerk griff sie kubistische Elemente auf, mit denen sie durch ihre älteren Brüder Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon in Berührung kam. Die Geschwister hielten wöchentliche Treffen in ihren Atelierwohnungen in Puteaux bei Paris (heute: La Defense) ab, und es entstand die Gruppierung der Puteaux-Kubisten. Die Motive von Suzanne Duchamps Gemälden aus dieser Phase reichen von Porträts über häusliche Interieurs bis zu Stadtlandschaften.

Das erste Werk, das sie in modernen Kunstkreisen ausstellte, war das Bildnis „Jacques Villon“ (1910), das diesen beim Malen eines Selbstporträts darstellt. Vielansichtigkeit und Fragmentierung findet sich in dem Gemälde „Jeune fille au chien“ (Junges Mädchen mit Hund, 1912), das die Schwester der Künstlerin und ihren Hund zeigt und als Duchamps bedeutendster Beitrag zum Pariser Kubismus gilt. In „Construction“ (Konstruktion, 1913) abstrahiert Duchamp vermutlich den Industrieort Puteaux. In einer Art gemäßigtem Kubismus staffelt die Künstlerin horizontale und vertikale Linien und Flächen, um damit den modernen Charakter der Stadtlandschaft zu beschreiben.

Abstrakte Darstellung einer Frau mit einem Gefäß, umgeben von stilisierten Tieren und geometrischen Formen.
Suzanne Duchamp, Jeune Fille au Chien (Junges Mädchen mit Hund), 1912, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm
Centre Pompidou, Paris, MNAM-CCI; En dépôt depuis 2013: Musée des Beaux-Arts de Rouen / bpk / CNAC-MNAM / Bertrand Prévost / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Abstrakte Stadtlandschaft mit geometrischen Formen, grauen Gebäuden, Strommasten und warmen Farben.
Suzanne Duchamp, Construction (Konstruktion), 1913, Öl auf Leinwand, 89 × 130 cm
Privatsammlung / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Dada International

Im Februar 1916 gründeten Tristan Tzara und andere im Zürcher Cabaret Voltaire die revolutionäre Dada-Bewegung – ein künstlerischer Protest gegen den Ersten Weltkrieg und die gesellschaftliche Ordnung. Mit neuen Materialien und gefundenen Objekten sowie mit Sprache und Performance wollten sie das Publikum aufrütteln und das Absurde der Realität vorführen. Zeitgleich entstanden Dada-Zentren in New York mit Marcel Duchamp, Jean Crotti – den Suzanne Duchamp 1919 heiratete – Francis Picabia, Elsa von Freytag-Loringhoven und Beatrice Wood sowie in Köln, Berlin und Paris. Suzanne Duchamp, Teil der Pariser Gruppe, arbeitete während des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester, beteiligte sich mit eigenen Beiträgen an dadaistischen Zeitschriften und an Flugblättern und entwickelte bereits in den ersten Dada-Jahren einige ihrer wegweisenden Hauptwerke.

Die SCHIRN zeigt mehrere große dadaistische Materialcollagen wie „Radiation de deux seuls éloignés“ (Strahlung von zwei entfernten Einzelpersonen, 1916–1920) oder „Ariette d’oubli de la chapelle étourdie“ (Vergessene Ariette der benommenen Kapelle, 1920), in denen sie mit gefundenen Elementen wie Perlen, Metallpapier sowie Schnur oder Glas und Holz arbeitete. Inspiriert durch ihren Bruder Marcel Duchamp und den Austausch mit der New Yorker Dada-Szene, beteiligte sich Suzanne Duchamp so an der Erfindung der Collage-Technik. In ihren Arbeiten „Multiplication brisée et rétablié“ (Zerbrochene und wiederhergestellte Multiplikation, 1918/19) und „Solitude-Entonnoir“ (Einsamkeitstrichter, 1921) erkundete sie die Grenzen und Erweiterungen unterschiedlicher Medien. Wie auch andere Dadaist*innen integrierte Duchamp poetische Sprache in ihre Bildkompositionen. Die Titel ihrer Arbeiten sowie gemalte Inschriften wurden eigenständige Kompositionselemente. Die grafisch einprägsamen und dabei minimalistischen Arbeiten „Usine de mes pensées“ (Fabrik meiner Gedanken) und „Fabrique de joie“ (Fabrik der Freude, beide 1920) greifen etwa die Bildsprache der Industrie-Architektur und die damals zentrale Frage der Verbindung von Maschine und Gefühl auf. Mit ihrem Bruder Marcel Duchamp arbeitete die Künstlerin an seinen Readymades. In der Ausstellung ist das das großformatige Gemälde „Le Readymade malheureux de Marcel“ (Das unglückliche Readymade von Marcel, ca. 1919/20) zu sehen, das Resultat gemeinsamer Arbeit.

Abstrakte Komposition mit blauen, grünen und braunen Formen, der Text "LE READY-MADE MALHEUREUX de MARCEL" ist sichtbar.
Suzanne Duchamp, Le Readymade Malheureux de Marcel (Das unglückliche Readymade von Marcel), 1920, Öl auf Leinwand, 81 × 60 cm
The Bluff Collection / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Suzanne Duchamp, Fabrique de Joie (Fabrik der Freude), 1920, Gouache, Aquarell, Bleistift und Tinte auf Papier, 44 × 54 cm
Privatsammlung; Courtesy Galerie 1900-2000, Paris / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Abstrakte Komposition mit geometrischen Formen und Texten in verschiedenen Farben und Texturen.
Suzanne Duchamp, Multiplication Brisée et Rétablié (Zerbrochene und wiederhergestellte Multiplikation), 1918/19, Öl und Silberpapier auf Leinwand, 61 × 50 cm
bpk / The Art Institute of Chicago / Art Resource, NY / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Eine unabhängige Künstlerin

Das Jahr 1922 stellte einen Wendepunkt in Suzanne Duchamps Kunst dar: Nach ihrer erfolgreichen Dada-Phase wandte sie sich wieder der Figuration zu – nun jedoch humorvoll und karikierend. Diese Periode markiert ihre Rückkehr zur unabhängigen künstlerischen Arbeit und ist vom dynamischen Einsatz der Farbe geprägt. Sie löste sich von Bewegungen wie Dada oder Kubismus und stellte nach 1923 seltener mit ihrem Mann Jean Crotti aus. Stattdessen war sie in Gruppenausstellungen mit Künstlerinnen wie Marie Laurencin vertreten, die ebenfalls neue Formen der Figuration erkundeten. Die SCHIRN zeigt das Hauptwerk „La Noce“ (Die Hochzeit, 1924), in dem Duchamp in leuchtendem Rot und gedämpften Grautönen einen ironischen Blick auf eine Hochzeitsfeier und die Institution der Ehe als bürgerliche Konvention wirft.

Ab Mitte der 1920er- bis in die 1930er-Jahre arbeitete Suzanne Duchamp in Paris und an der Côte d’Azur und gewann international an Aufmerksamkeit. Die enge Zusammenarbeit mit der amerikanischen Künstlerin und Sammlerin Katherine Dreier führte zu mehreren Ausstellungen in New York, darunter 1933 eine Einzelausstellung ihrer Aquarelle. Auch in Pariser Galerien und internationalen Gruppenausstellungen war sie vertreten. In diesen Jahren entstanden äußerst vielfältige Werke, deren Motive sie auch immer wieder kombinierte: Porträts, Landschaften, Strandszenen, Stillleben sowie unkonventionelle Alltagsdarstellungen. Duchamp arbeitete hauptsächlich in Öl und Aquarell und nutzte Zeichnungen zur Planung ihrer Kompositionen. Aus dieser Zeit datieren markante Werke wie die skurrile Interpretation des Garten Edens „Le Paradis terrestre“ (Das irdische Paradies, 1924) oder das ungewöhnlich direkte und dynamische Porträt „Lorenzo Picabia“ (ca. 1927), ein Bildnis des Sohnes ihrer Freunde Francis Picabia und Germaine Everling, der zu einem wiederkehrenden Motiv in ihrem Bildkosmos wurde.

Porträt eines Jungen in blauer Kleidung, der mit einer Puppe sitzt, umgeben von bunten Blumen im Hintergrund.
Suzanne Duchamp, Lorenzo Picabia, um 1927, Öl auf Leinwand, 60,1 × 50,1 cm
Collection of Scott C. Magid / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Eine bunte, stilisierte Hochzeitsszene mit Gästen, einem Tisch, einer Braut in Weiß und einer Dame in Pink.
Suzanne Duchamp, La Noce (Die Hochzeit), 1924, Öl auf Leinwand, 66 × 92,1 cm
Privatsammlung / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Zweiter Weltkrieg und Spätwerk

Der Zweite Weltkrieg stellte für Suzanne Duchamp eine massive Zäsur dar. Über ihr künstlerisches Schaffen in diesen Jahren ist wenig bekannt. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Jean Crotti in Südfrankreich und an verschiedenen Orten auf dem Land, bisweilen in Begleitung ihrer Brüder Marcel Duchamp und Jacques Villon. Ihre Bilder reduzierte sie nun auf Szenen aus ihrer täglichen Umgebung und vor allem auf Landschaften, die sie wie in „La ferme Toussus“ (Toussus, 1943) oder „Sans titre (Paysage)“ (Ohne Titel [Landschaft], 1943) in von der Natur abweichenden, intensiven Farben darstellte.

Nach 1945 erhielt Suzanne Duchamp neue Ausstellungsmöglichkeiten und unternahm viele Reisen ins Ausland. Porträts von Mitgliedern ihrer Familie blieben ein zentraler Teil ihres Werks. In den 1950er-Jahren wurde Suzanne Duchamp in mehreren Ausstellungen für ihren entscheidenden Beitrag zur Avantgarde gewürdigt, besonders für ihre dynamische Verbindung von Malerei, Poesie und Collage. Ab Mitte dieses Jahrzehnts wandte sie sich, dem aktuellen Zeitgeist entsprechend, verstärkt der Abstraktion zu, besonders nach dem Tod von Jean Crotti 1958. Das späte Werk „Le Monde souterrain“ (Die Unterwelt, 1961) reflektiert ihre fortwährende Auseinandersetzung mit der malerischen Interaktion von Farbe und Linie im Bildraum und lotet zugleich die Grenzen des Lebens aus. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1963 blieb Suzanne Duchamp künstlerisch aktiv und suchte stets nach neuen Ausdrucksformen.

Lebendige Landschaft mit bunten Bäumen, Bergen und klarem Himmel, inspiriert von impressionistischer Kunst.
Suzanne Duchamp, Sans Titre (Paysage) (Ohne Titel [Landschaft]), 1943, Öl auf Leinwand, 53 × 65 cm
Collection of Scott C. Magid / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Abstraktes Gemälde mit intensiven Farben und dynamischen Pinselstrichen, die eine lebendige, strukturreiche Komposition schaffen.
Suzanne Duchamp, Le Monde Souterrain (Die Unterwelt), 1961, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm
Musée des Beaux-Arts de Rouen. Purchased in a Public Sale, Macclesfield, 2018 / © Suzanne Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2025