Sind Künstler*innen besonders kreativ, wenn es ums Kochen geht? Ein Blick in die Küchen der Kunstwelt. Diesmal mit sechs Zutaten aus dem Leben und Werk der Performance Künstlerin Marina Abra­mović.

TÜRKISCHER KAFFEE

Geboren 1946 in Belgrad, im Zentrum des sozialistischen Jugoslawien, spielte sich die Kindheit Marina Abramovićs größtenteils unter der Obhut ihrer Großmutter Milica ab. Ihre Eltern, Tito-Partisanen mit wichtigen Ämtern in der Regierung, waren oft gedanklich und physisch abwesend, und so wurde die Küche der Großmutter zu Abramovićs Zufluchtsort. Der Geruch nach frisch geröstetem Kaffee schwebte in der Luft; am Esstisch wurden Geschichten erzählt, Träume interpretiert und Geheimnisse verraten. In der Küche vermischten sich Irdisches und Spirituelles, es wurde für die Familie gekocht, türkischer Kaffee getrunken und aus dem Kaffeesatz gelesen. Milica, eine streng gläubige Frau, beeinflusste Abramović nachhaltig. Als Erwachsene erforschte die Künstlerin immer wieder ihre eigene Spiritualität, wandte sich Schamanen und Wahrsagerinnen zu und näherte sich mit ihrem Werk vielfach dem Buddhismus und der christlichen Tradition an.

Marina Abramović, The Kitchen IV (aus der Serie „The Kitchen, Homage to Saint Therese"),2009 © Marina Abramović, Courtesy of the Marina Abramović Archives
PECORINO-KÄSE

Die junge Marina Abramović führte trotz der kommunistischen Überzeugung ihrer Eltern ein sehr komfortables Leben. Sie wohnte mit ihrer Familie in einem eleganten Acht-Zimmer-Altbau, Kunst und Kultur waren fester Bestandteil ihres Alltags und ihr Interesse an der Malerei wurde mit einem eigenen kleinen Atelier belohnt. Doch gleichzeitig herrschten im Haus erstickende Strenge und Lieblosigkeit. Nach Abschluss eines Malereistudiums an der Kunstakademie und der Umsetzung erster Performances, bei denen sie ihren eigenen Körper als künstlerisches Medium einsetzte, zog Abramović 1976 nach Amsterdam. Dort begann ihre langjährige künstlerische und romantische Partnerschaft mit Frank Uwe Laysiepen, bekannt als Ulay. Zusammen reisten sie drei Jahre lang in einem umgebauten Citroën-Van durch Europa, unter anderem nach Sardinien, wo sie zwei Monate lang auf einer kleinen Farm im Dorf Orgosolo arbeiteten. Jeden Morgen um fünf mussten sie zweihundert Ziegen und Schafe melken, um daraus Pecorino-Käse zu machen. Im Tausch bekamen sie Brot, Wurst, Käse, ein paar selbst gezüchtete Tomaten und einen Liter Olivenöl – für die beiden war es ein unbezahlbares Festmahl.

WASSER

Schon früh erkannte Abramović, dass sie in der Performance das ideale künstlerische Medium für sich gefunden hatte. Sie begab sich vor ihrem Publikum immer wieder in psychische und physische Extremsituationen, um die Grenzen ihres Körpers auszuloten, ihre eigenen mentalen Blockaden zu überwinden und so eine neue Bewusstseinsebene zu erreichen. Dafür ritzte sie sich in den Bauch, peitschte sich aus und legte sich nackt auf Eisblöcke („Lips of Thomas”, 1973); kämmte sich so lange, bis ihre Kopfhaut fast blutete („Art must be beautiful, 1975”) oder stellte dem Publikum ihren eigenen Körper und 72 Objekte zur Verfügung – darunter eine Feder, ein Skalpell und eine geladene Pistole – mit der Anweisung, sie damit nach Lust und Laune zu traktieren („Rhythm 0”, 1974). Für „House With Ocean View” (2002) lebte Abramović zwölf Tage lang in einer Galerie, in völliger Stille und ohne jegliche Privatsphäre: Die Besucher*innen konnten sie jederzeit beim Duschen, Sitzen, Pinkeln oder Schlafen beobachten. Sie fastete den gesamten Zeitraum über und trank nur gefiltertes Wasser – eine weitere körperliche Grenzerfahrung, die ihr eine völlig neue geistige Klarheit verschaffte. Seitdem ist das regelmäßige Fasten zu einem Grundpfeiler ihrer Praxis geworden.

Marina Abramović und ULAY, Relation in Time, 1977/2010, Courtesy Marina Abramović und Sean Kelly Gallery, Image via moma.org

Installationsansicht: Marina Abramović, The House with the Ocean View, 2002
Courtesy of Sean Kelly, New York, Image via skny.com

SCHWEINEBLUT

1988 lief die Künstlerin neunzig Tage lang auf der Chinesischen Mauer entlang, um sich in der Mitte mit Ulay zu treffen, der von der entgegengesetzten Richtung kam (die Performance endete mit der Trennung der beiden). Nebst den extrem unkomfortablen Übernachtungen sticht in ihrer Erinnerung besonders das Frühstück in den umliegenden Dörfern heraus: ein Teller Tofu, dazu ein großer Topf mit kochendem Schweineblut, welches den Körper von innen reinigen sollte. Eine Dekade später tauchte diese Zutat erneut in Abramovićs kulinarischer Biografie auf: Im Rahmen einer Serie von Performances namens „Spirit Cooking”, für die sie eine Reihe von poetisch-surrealistischen Rezepten entwickelte und diese mit Schweineblut an die Wand malte. Diese rangierten von „Facing The Wall - Eat Nine Red Hot Peppers” bis zu „Mix Fresh Breast Milk - With Fresh Sperm Milk - Drink On Earthquake Nights”. 1996 veröffentlichte sie ein dazugehöriges Kochbuch mit dem Titel „Spirit Cooking with essential aphrodisiac Recipes”. Hier finden sich Anleitungen, die betörend wirken sollen, so wie „saliva of your lover - mixed with morning dew - collected from eucalyptus leaves” oder „take 13 leaves of uncut green cabbage with - 13,000 grams of jealousy - steam for a long time in a deep iron pot - until all water evaporates - eat just before attack”.

Marina Abra­mović, Spirit Cooking, 1996, Courtesy of Serpentine Galleries, Image via artsandculture.google.com

Marina Abra­mović und Ulay, The Lovers, The Great Wall Walk, 1988,  © VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Image via bonvoyage.ludwigforum.de

REIS

Abramović avancierte mit ihren radikalen, oft unangenehmen Aktionen zu einer weltweit anerkannten Künstlerin und steuerte grundsätzlich dazu bei, das Genre der Performance neu zu definieren. Nach und nach entwickelte sich ihre Arbeit in Richtung einer spirituellen, meditativen Erfahrung, in der sie die nicht weniger radikalen Konzepte der Stille, des Innehaltens und des Spürens ins Zentrum stellte. Um sich physisch und mental zu stärken und ihren Geist ganz im Hier und Jetzt zu verankern, entwickelte Abramović eine Serie von Übungen, die sie unter dem Titel „The Abramović Method” veröffentlichte. „Counting the Rice” ist eine davon: Man nehme eine Schüssel, gefüllt mit einer Mischung aus Reis und Linsen, und kippe diese auf einem Tisch aus. Nun gilt es, die beiden Elemente fein säuberlich zu trennen und abzuzählen. Was einfach klingt, wird früher oder später den Geduldsfaden zum Reißen bringen und eine Kaskade an negativen Emotionen auslösen: Langeweile, Wut und Ungeduld. Irgendwann sollte die Zeit keine Rolle mehr spielen und sich ein Gefühl der absoluten inneren Ruhe einstellen – wenn man es denn lange genug aushält.

Abramovićs Methoden zur Bewusstseinserweiterung können auch in Form von zweitausend Euro teuren Workshops an der Seite der Künstlerin erlernt werden, Reis zählen, Schweigen und Fasten sind fester Bestandteil der Kurse. Das Highlight am Ende der fünf Tage: Marina Abramović, am Kopfende einer langen Tafel sitzend, serviert jedem eine Schale weißen Reis. Die Teilnehmer werden aufgefordert, die Augen zu schließen, bevor sie die ersten Bissen des Essens zu sich nehmen – nach fünf Tagen Fasten soll der Geschmack wohl eine Erleuchtung sein.

 

OPEN STUDIO | MARINA ABRAMOVIĆ: COUNTING THE RICE

SCHOKOLADE

Für ihre wohl bekannteste Performance, „The Artist is Present” (2010) im New Yorker MoMA, saß Abramović drei Monate lang, sechs Tage die Woche, sieben Stunden täglich unbeweglich auf einem Stuhl und schaute jeder Person in die Augen, die sich ihr gegenübersetzte. Mehr als tausend Menschen taten es, viele davon rührte die Begegnung zu Tränen. Dank der massiven medialen Verbreitung der Performance wurde Abramović zum internationalen Star. Die Vorbereitung für diesen Kraftakt dauerte ein Jahr lang: In der Zeit aß sie kein Mittagessen, sondern nur ein kleines, proteinreiches Frühstück und ein vegetarisches, extrem nährstoffreiches Abendessen, um ihren Stoffwechsel umzustellen. Jahrzehntelanges Training der Selbstbeherrschung ermöglichte es ihr, ein solches Unterfangen erfolgreich durchzustehen. Umso überraschender ist es, dass Abramović zugibt, keinerlei Willenskraft zu haben, wenn es um eines geht: Schokolade. Zuckrige, weiße, durch und durch ungesunde Schokolade. Die Großmutter der Performance-Art, wie sie sich nennt, scheint also doch nur ein Mensch zu sein.

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