Walid Raad setzt sich mit den Krie­gen im Liba­non und deren Auswir­kun­gen auf Geist, Körper, Gemein­schaft und Erin­ne­rungs­kul­tur ausein­an­der. Dabei gilt es genau hinzusehen, denn in seiner Kunst ist ein zweiter Blick entscheidend.

„Im Jahr 1975, zu Beginn des Libanesischen Bürgerkrieges, wurden die meisten öffentlichen Denkmäler Beiruts eilig demontiert und in unbeschrifteten Kisten verpackt, um sie zu schützen. […] Dreißig Jahre später wurden sie wieder zusammengetragen und geöffnet, in der Hoffnung die Denkmäler wieder zusammensetzen zu können.“ Da die Denkmäler jedoch in Eile demontiert und die Kisten nicht sachgemäß beschriftet worden waren, kam es bei dem Wiederaufbau zu fantastischen Neubildungen, deren Umrisse entfernt an geflügelte Statuen erinnern – so die Erläuterung des libanesischen Künstlers Walid Raad zu zwei monumentalen, hölzernen Skulpturen, die die Ausstellung „We Lived So Well Together“ in der Kunsthalle Mainz eröffnen.

Installationsansicht: Walid Raad, I long to meet the masses once again_XVII, 2019; I long to meet the masses once again_XXIII, 2019; I long to meet the masses, 2017, Courtesy the artist and Sfeir-Semler Gallery, Beirut/Hamburg, Foto: Norbert Miguletz

Man ist geneigt, dem Künstler für diese anschauliche Erläuterung zur Entstehung des Werkes zu glauben, denn wer sollte ein Kunstwerk besser erklären und einordnen können, als sein Schöpfer selbst?

Wasserfall ist nicht gleich Wasserfall

Im zweiten Saal der Kunsthalle präsentiert Raad eine neue Werkgruppe und offenbart im Wandtext bereitwillig seine Inspirationsquelle: So gehen die Projektionen von tobenden Wasserfällen, am Fuße derer kleine Pappfiguren bekannter Politiker*innen stehen, auf eine ungewöhnliche Strategie verschiedener Milizen im Libanonkrieg zurück. Diese benannten die Wasserfälle nach ihren wechselnden Geldgeber*innen – auf diese Weise wurde der König-Fahd-Wasserfall später zum Saddam-Hussein-Wasserfall und zuletzt zum Margaret-Thatcher-Wasserfall. In Mainz gruppieren sich die Namensgeber*innen beinahe freundschaftlich am Boden des Wasserfalls.

Raad wurde 1967 in Chbanieh im Libanon geboren und emigrierte 1983 in die USA, wo er bis heute lebt und arbeitet. Sein Œuvre umfasst Performance- und Installationskunst, Video, Fotografie und Skulptur, und setzt sich mit den Kriegen im Libanon und deren Auswirkungen auf Geist, Körper, Gemeinschaft und Erinnerungskultur auseinander. Seine Arbeitsweise gleicht dabei der eines Kunsthistorikers: Raad präsentiert Dokumente und Archivmaterial, verweist auf persönliche Begegnungen und greift folkloristische oder mythische Erzählungen auf, die seinen Werken zugrunde liegen. Allem voran steht die Frage, wie sich Kriegstraumata, Gewalt, Erinnerungen und Verlust in Worte oder Kunstwerke fassen lassen. 

Das Netz des Walid Raad

Das Netz an Quellen, historischen Fakten und Erzählungen, welches das künstlerische Schaffen von Walid Raad charakterisiert, ist dabei jedoch durchzogen von fiktiven Ereignissen und vermeintlichen Begegnungen, die der Künstler in poetische Bild- und Sprachgefüge überträgt. So werden die Dokumente und Geschichten, ob real oder fiktiv, selbst zum Teil der Kunst, genauso wie die Wandtexte an den Wänden der Kunsthalle. Die Wahrheit lässt sich nicht länger von der Fiktion trennen und die Annahme, dass einem Kunstwerk eine vom Künstler intendierte Bedeutung zugrunde liegt, die es zu entschlüsseln gilt, wird ad absurdum geführt.

Installationsansicht: Walid Raad, Note to the German reader, 2020, Courtesy the artist and Sfeir-Semler Gallery, Beirut/Hamburg, Foto: Norbert Miguletz

Manchmal jedoch gerät die den Werken Raads zugrunde liegende Thematik aus dem Blick – zu kurzweilig sind seine Erzählungen, zu poetisch seine visuelle Sprache. Man möchte in seinem erzählerischen Universum verweilen so lange es geht.

Blüten, die keine Blüten sind

So sind auf einer Fototapete leuchtend rote und violette Blüten zu sehen, aus deren Kelchen die Köpfe von Angela Merkel oder Gerhard Schröder wachsen. Die botanischen Bezeichnungen verwendete der libanesische Geheimdienst der Armee als Codenamen für die Politiker*innen, so erzählt Raad, der dies angeblich von Fadwa Hassoun, einer Geheimdienstoffizierin und studierten Botanikerin erfuhr. In seiner Rolle als Künstler, erscheint Raad zugleich als Archäologe und Historiker, Investigativ-Journalist und Publizist, Theoretiker und Zuhörer und räumt damit mit der Vorstellung einer wahren Aussage in seinen Werken auf. In der Betrachtung seiner Kunst birgt die Frage nach Wahrheit, Autorschaft und Fiktion keine Antworten. Erinnerungen und Aufzeichnungen, physische und psychische Spuren, Wahrheit und Fiktion sind bei Raad gleichwertige Kategorien der Geschichtsschreibung.

Installationsansicht: Walid Raad, Another Letter To The Reader, 2015/2022, Courtesy the artist and Sfeir-Semler Gallery, Beirut/Hamburg, Foto: Norbert Miguletz
Installationsansicht: Walid Raad, Better be watching some clouds, 2022, Courtesy the artist, Foto: Norbert Miguletz

Walid Raad – We Lived So Well Together

11. Februar – 15. Mai 2022

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