Was, wenn ein Stein gar kein Stein ist? Der Künstler Dennis Siering machte kürzlich einen Fund, der ihn so erschütterte, dass er daraus gleich eine einzig­ar­tige neue Platt­form erschuf: Pyroplastics.

Was, wenn ein Stein kein Stein ist und ein Stück Plastik zum Träger einer archäologischen Bedeutungsgeschichte wird? Der Frankfurter Künstler Dennis Siering beschäftigt sich in seinem Werk schon lange mit Materialität zwischen Natur und Künstlichkeit, mit der Beschaffenheit der Erdoberfläche und der Ästhetik von wissenschaftlichen Verfahren. Doch der Fund, den er im vergangenen Jahr an der baskischen Küste machte, erschütterte ihn so sehr, dass er daraus gleich eine einzigartige neue Plattform erschuf.

Eigentlich war Siering auf der Suche nach Mikroplastik – ein Phänomen, das in aller Munde ist und ihn künstlerisch aktivierte. Als er am Strand einen Stein aufhob, um ihn näher zu betrachten, merkte er, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Viel zu leicht und irgendwie seltsam fühlte sich das vermeintliche Gestein an. Was folgte, klingt nach einer Mischung aus Krimi und Nerd-Traum. Siering machte sich auf Spurensuche, die ihn an der Atlantikküste entlangführte und mit Menschen in Kontakt brachte, die eigentlich weit weg von seiner eigenen künstlerischen Praxis arbeiten. So zum Beispiel zu Prof. Andrew Turner von der University of Plymouth, der nur wenige Monate vor Sierings Fund einen Artikel publiziert hatte, der sich mit einem scheinbar völlig neuen Phänomen beschäftigte: Pyroplastik.

Dabei handelt es sich um  an Stränden, auf Schiffen oder in Mülldeponien verbrannte Plastikteile, die auf verschiedenen Wegen in die Ozeane geraten sind. Sie sind durch jahrzehntelange Erosion so geformt, dass sie mit bloßem Auge kaum von natürlichen Steinen zu unterscheiden sind. Siering allein fand auf seinen Streifzügen entlang der Küsten hunderte solcher Exemplare und war fasziniert von der Materialität, aber auch von ihrer Bedeutungsgeschichte und der ihnen eingeschriebenen Zeitlichkeit.

 

RESEARCH TRIP, 2020, NOUVELLE-AQUITAINE REGION (ATLANTIC COAST)
DENNIS SIERING, DETAIL, SYNTHETIC STONE NO. 147
DENNIS SIERING, SYNTHETIC STONE NO. 87, FROM THE SERIES: DUPONT BEACHROCK

In monatelanger Arbeit entstand daraufhin die Plattform „Pyroplastics“, die sich auf verschiedenen Ebenen mit den Objekten befasst. Wer Sierings künstlerische Praxis kennt, sieht schnell, dass sich diese wie Readymades in sein Oeuvre einfügen. Dieser Effekt verstärkt sich durch die Art, wie sie auf der Plattform präsentiert werden. Immer changierend zwischen einer Warenästhetik à la Apple und mystischen Fundstücken aus dem Weltraum, drehen sich die Plastikteile und sind so von allen Seiten erfassbar.

Pyro­plas­tik führt die Dicho­to­mie aus Natur und Kultur ad absur­dum

Wo Dennis Siering bislang nachwachsende Rohstoffe mit synthetischem Material verband oder Felsformationen mit menschlich produzierten Elementen nachformte, wie bei „No Maps for These Territories“, taucht hier etwas auf, das ganz eigenständig davon erzählt, wie Konsumgüter sich in die Erdoberfläche eingeschrieben haben und dass die industrielle Produktion längst untrennbar mit dem Planeten verwoben ist. Somit führt das Pyroplastik die Dichotomie aus Natur und Kultur ad absurdum. Zugleich ist es ein zutiefst bestürzender Fund. Denn nicht nur sehen die Plastikteile aus wie Steine, auch verhalten sie sich in den Gezeiten ähnlich. Sie werden mit der Zeit kleiner und kleiner, werden zu Sand und schrumpfen schließlich bis auf Virusgröße zusammen – jederzeit bereit, eingeatmet zu werden.

DENNIS SIERING, SYNTHETIC STONE NO. 71, FROM THE SERIES: DUPONT BEACHROCK
DENNIS SIERING, SYNTHETIC STONE NO. 13, FROM THE SERIES: HARDSHELL
DENNIS SIERING, SYNTHETIC STONE NO. 208, FROM THE SERIES: SILVERSTONE SUPRA

Das in Kollaboration mit Grafikern, Fotografen, Filmemachern, Geistes- und Naturwissenschaftler*innen entstandene Online-Archiv besteht aus vier Ebenen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Phänomen auseinandersetzen. Die Dynamik der Website, die sich immer wieder neuformiert und modular aufgebaut ist, bietet einen sowohl visuell als auch inhaltlich fesselnden Erfahrungsraum. Das Archiv nimmt unterschiedliche Blickwinkel ein: Eine ästhetisierende Perspektive, die sich auf das Objekt als solches fokussiert, steht beispielsweise in einem Wechselspiel mit einer aktivistischen Herangehensweise, die schadstoffproduzierende Konzerne auflistet.

Die Pseu­dosteine lassen sich als Proto­typ für eine Natur 2.0 verste­hen

Pyroplastics bietet zudem durch die hochauflösenden 3D-Ansichten der Objekte die Möglichkeit, eben doch deutliche Differenzen von Steinen auszumachen. Verformte Schrift oder Strukturen von Plastikseilen schälen sich wie Reliefs von Fossilien aus den sonst so organisch anmutenden Fundstücken. Die Pseudosteine lassen sich als Prototyp für eine Natur 2.0 verstehen und stellen gleichsam die Vorstellung einer ursprünglichen, „echten“ Natur in Frage. Sie bilden einen Nährboden für Bakterien, ziehen anderen Schadstoffe an und sind dennoch wundersame, geheimnisvolle Objekte.

ONLINE DOCUMENTATION BY PROFI AESTHETICS, PYROPLASTICS.ORG, 2021

Mit ihrem ästhetischen Erscheinungsbild haben sie die Macht, uns für eines der grausamsten menschengemachten Phänomene des Anthropozäns zu emotionalisieren: die Verschmelzung von Müll und selbstregulierenden Organismen. Sie lassen uns eine Hilflosigkeit spüren, die angesichts der weltweiten Verschmutzung zwingend ist, denn: die meisten der Stoffe sind Produkte der letzten sechzig Jahre.  Damit werden sie zu einer visuellen Manifestation der Wegwerfgesellschaft, erzählen darüber hinaus aber auch von Ausbeutung und von den Wegen, die der Abfall nimmt. Aufgrund ihrer Materialität stehen sie außerdem für einen Entwicklungsprozess und den vermeintlichen Fortschritt.

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