Ein Künstlerinnennetzwerk zwischen Frankfurt und Tel Aviv schafft Kunst von Zuhause für Zuhause. Im Früh­jahr 2022 soll das Projekt als Ausstellung nach Frank­furt kommen.

Mit der Pandemie traten ungeahnte Begehrlichkeiten in die Welt. „Es scheint, als ob Essenskurier zu werden gar nicht so einfach ist, wie ich dachte“, notiert Rotem Volk am 4. Januar dieses Jahres, über drei Monate, nachdem sie ihre Bewerbungsunterlagen bei dem beliebtesten Lieferdienst ihrer Stadt eingereicht hat. „Tatsächlich scheint es sogar der heißeste Job des Jahres – in Tel Aviv gibt es eine Warteliste mit 15.000(!) Menschen, die für Wolt arbeiten möchten.“ Weil der Anbieter beinahe klingt wie ihr eigener Nachname, nennt die Künstlerin ihr Projekt „Volk“, das Logo lehnt sie an ihren temporären Auftraggeber an.

In einem virtuellen Tagebuch dokumentiert sie besonders nette und besonders unangenehme Lieferdienst-Begegnungen, die dieser Tage (Wochen, Monate, Jahre) für viele Menschen je nach Lockdown-Lage bisweilen den einzigen Kontakt zur Außenwelt außerhalb eines sorgfältig kuratierten sozialen Kreises darstellten. Beim Bewohner eines Luxusapartments wittert die Künstlerin schon an der Sprechanlage „Arschloch-Vibes“ und wird sich später bestätigt fühlen, doch meistens geht es eher freundlich zu. Sie liefert Essen und Blumen an alte und jüngere Menschen, Männer und Frauen, Freunde im Park und einen älteren Herrn mit Hund aus. Einmal sogar an ihre eigene Mutter – dank ihrer als systemrelevant eingestuften, neuen Tätigkeit kann sie trotz ansonsten strenger Kontaktsperren mit einer Überraschungsmahlzeit vorbeischauen.

Geld­ver­die­nen und Unter­wegs­sein als künst­le­ri­sche Pande­mie-Praxis

Geldverdienen und Unterwegssein als künstlerische Pandemie-Praxis: Rotem Volks digitale Dokumentation ist einer von zwölf Beiträgen der web residency „home.frankfurt.telaviv“, für die Kuratorin Sonja Müller vom Frauen-Networking „Frankfurter Kranz“, Rosemarie Heilig als Vorsitzende des Umwelt- und Frauendezernats und das Frauenreferat der Stadt Frankfurt gemeinsam mit Kolleginnen aus der Partnerstadt Tel Aviv feministische Künstlerinnen und Kunstkollektive zum virtuellen Austausch geladen haben. „Warum dieses Projekt?“, befragt sich Gabriele Wenner vom Frauenreferat rhetorisch selbst: „Weil Frauen weniger Geld bekommen, weniger Ausstellungen bekommen, und weniger Aufmerksamkeit.“ Ergo seien sie auch oftmals besonders stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen, denen die web residency nun etwas entgegensetzen will.

Rotem Volk, Volk. in 30–40 minutes, Courtesy of the artist

Ursprünglich als städteübergreifendes Ausstellungsprojekt anlässlich der 40-jährigen Städtepartnerschaft 2020 geplant, wurde schon im ersten Lockdown umgeplant. Die Ergebnisse der künstlerischen Beschäftigung mit dem obligatorischen Thema „home“, das sich mit dem Deutschen „Heimat“ nur mäßig übersetzen lässt, sondern eher zwischen der und dem (gerade nicht national oder regional konnotierten) Zuhause verortet liegt, sind nun online einsehbar. Mal dient der Webauftritt wie bei Rotem Volk als Dokumentation der eigenen Arbeit, andere Formate wie Video, Fotografie oder Soundarbeiten werden direkt präsentiert.

Aus Frankfurt respektive Mühlheim dabei sind Anny und Sibel Öztürk, die ihr gemeinsames Wohnzimmer unter dem Projektnamen „Homework“ zum Atelier umbauen und dabei Familienerbstücke, Bücher und Mobiliar auf ihr künstlerisches Gehalt untersuchen. (Und haben nicht auch Feministinnen der ersten Generation immer wieder gegen das Primat des Studios gearbeitet, indem sie Küchentische und Wohnzimmerteppiche zum ernstzunehmenden Produktionsort für Kunst deklarierten?) Dabei rekurrieren die Schwestern auf ihre eigene Familiengeschichte, der sie durch Collagierung und Übermalungen eigene Erzählungen hinzufügen wollen: „Auch, wenn wir kaum das Haus für unser Projekt verlassen werden, wird sein Narrativ reichlich Stoff für Geschichten von Reisen und Migration liefern.“

Auch, wenn wir kaum das Haus für unser Projekt verlas­sen werden, wird sein Narra­tiv reich­lich Stoff für Geschich­ten von Reisen und Migra­tion liefern.

Anny und Sibel Öztürk

Überhaupt handeln viele Projekte implizit auch davon, dass „home“ nicht ohne sein Gegenteil zu denken ist.  Eliana Renner, die im vergangenen Sommer in einer Flugperformance ein Banner mit dem jiddischen Wort „Pitshipoy!“ über den Himmel von Berlin fliegen ließ, hat sich auch diesmal für eine wörtliche Beschäftigung mit dem Projekttitel entschieden. „Für mich ist und bleibt der Begriff ein externales Konzept“, rezitiert die Künstlerin, „wenn ich irgendetwas bin, dann vielleicht heymish – ein Wort, das das Gefühl von Zuhause-sein für mich am besten beschreibt. Dieses Gefühl muss nicht unbedingt geografisch lokalisiert sein.“ Mit spitzer Nadel sticht Renner Geschirrtüchern, die sonst mit Sprüchen wie „Home Sweet Home“ verziert werden, Überlegungen zum Thema Heimatlosigkeit ein. Heimweh, 1688 erstmalig von einem Schweizer Arzt als Krankheit aufgeführt, als ultimative Form der Nichtzugehörigkeit.

Eliana Renner, senhejma. dulce natale solum | süßer heimischer Boden (sweet native ground), 2021, Courtesy of the artist

Im März endet die Web Residency offiziell, für die Teilnehmerinnen geht es jetzt hoffentlich erst richtig los: „Wir alle lechzen natürlich nach realen Begegnungen“, meint Sonja Müller. Das Ausstellungsvorhaben ist aktuell wie restlos alles dieser Tage nur verschoben; im Oktober sollen die Arbeiten, so denn die Lage es zulässt, in Tel Aviv ausgestellt werden, im Frühjahr 2022 dann in Frankfurt. Gerade sind die Dreharbeiten für eine Reihe mit Künstlerinnengesprächen im Mousonturm beendet – Frankfurterinnen waren vor Ort, die israelischen Kolleginnen zugeschaltet. Eigentlich sollten die Videos am 8. März, dem Weltfrauentag, auf die Seite gestellt werden. Mit Schnitt und Postproduktion wird es nun ein paar Wochen länger dauern. Zur zweiten Märzhälfte sollen die Ergebnisse der moderierten Gespräche, die bewusst mehrsprachig geführt und dann übersetzt wurden, online abrufbar sein.

Körpererfahrungen werden über Zoom ausprobiert

Die meisten Künstlerinnen kannten sich vorher nicht. Inzwischen trifft man sich in loser Runde jeden Montagabend via Zoom, um die Projekte zu besprechen. Nicht zuletzt, meint Müller, habe das Projekt gezeigt, dass sich Nähe auch virtuell entwickeln kann. Manchmal hilft dabei die Kunst: Die israelische Tänzerin und Choreografin Maayan Danoch zum Beispiel lud die Gruppe zu gemeinsamen Übungen, bei der synchrone Körpererfahrungen über den Äther hinweg ausprobiert wurden. Titel ihrer Arbeit: „Telepathy Works“.

Maayan Danoch, telepathy works, 2021, Courtesy of the artist, Foto: Alessandro De Matteis

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