Ausgehend vom sehr begrenzten Wahrnehmungsspektrum des menschlichen Auges, erforscht eine Berliner Ausstellung die zeitgenössische Darstel­lung von Queer­ness, Identität und die Grenzen des Sichtbaren.

In dem ansonsten weißen Ausstellungsraum springen die farbenreichen Kunstwerke mit einer Wucht ins Auge. Der Titel der Ausstellung lautet „Visible Spectrum“ und beschreibt damit den sehr begrenzten Frequenzbereich des Lichts, den das menschliche Auge wahrnehmen kann. Das Farbspektrum, in dem wir die Welt um uns herum wahrnehmen, ist nur ein Bruchteil der Realität. Dieses sichtbare Spektrum ist dafür in voller Gänze bis zum 9. August im Projektraum 145 in Berlin vertreten. 

Neben den nahezu monochromen Gemälden des Künstlers und Initiators der Ausstellung Niklas Jeroch, stellen drei weitere Künstler*innen ihre Kunstwerke aus. Dabei ist das Farbspektrum der Ausgangspunkt, um Fragen der Identität in unserer heutigen Gesellschaft zu ergründen die Vorstellung unserer begrenzten Wahrnehmung in Frage zu stellen.

Ein stylisher Posterboy posiert mit neongelber Jogginghose

Bereits mit Blick durch die Schaufenster des Ausstellungraums fällt das großformatige Gemälde „Etropal“, von der autodidaktischen französisch-spanischen Künstlerin Ana Castillo direkt ins Auge. Ein stylisher Posterboy posiert mit neongelber Jogginghose und Plateausneakern in Atelierräumlichkeiten. Mit Smartphone und Peace-Zeichen schmunzelt er die Betrachtenden an und wirkt dabei schamlos vertraut. Die durch ihre Strahlkraft auffallenden Collage-Zeichnungen der Serie „Divina I bis IV“ wirken wie Ausschnitte aus zeitgenössischen Magazinen. Beeinflusst von der Internetkultur und der damit einhergehenden Bilderflut, schafft Castillo Werke in leuchtenden Farben und dynamischen Mustern und verwischt dabei die Grenzen zwischen Kunst, Mode und Popkultur. 

Ana Castillo, Etropal, 2020, Courtesy the artist

Die scheinbar vertrauten Personen, die Castillos Kompositionen bevölkern, fühlen sich in ihrem zweidimensionalen Raum genauso wohl wie Infulencer*innen im voyeuristischen Insta-Quadrat. Castillos Verwendung von Collagen als Teil ihres Arbeitsprozesses um vielschichtige und lebendige Kompositionen zu schaffen, bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir unsere Welt wahrnehmen, in der wir jederzeit auf alles und jeden zugreifen können.

Das Betrachten wird zum voyeuristischen Akt 

Mit nur einem Kunstwerk vertreten ist der US-amerikanische Künstler Navot Miller, der heute in Berlin lebt und arbeitet. Das Gemälde „Zach in Lake O’Hara“ zeigt einen Akt, der auf einem neonfarbenen Klo sitzt. Als Betrachter*in sieht man sich angesichts der Tür schließenden Geste automatisch mit der Thematik des Voyeurismus konfrontiert. In seinem Gemälde schafft Miller Kompositionen, die in zeitlicher Abfolge und visueller Assoziation geschichtet sind: man befindet sich als Betrachter*in direkt in einer Handlung, ist Teil der sichtbaren Bewegung. Seine Werk vermischt Erinnerungen an seine orthodoxe jüdische Kindheit mit seinem heutigen säkularen, queeren Leben in Berlin. Die Charaktere, die sich durch die farbenfrohe Welt von Millers Leinwänden bewegen, sind Personen aus dem eigenen Umfeld des Künstlers. Mit Peot ausgestattet schlagen sie eine Brücke zwischen Berlin und seiner Kindheit. Die an Hockney erinnernden Arbeiten erforschen die Darstellung von Queerness, Sexualität und Identität auf eine sehr persönliche und doch völlig nachvollziehbare Weise.

Die Künstlerin Katya Quel Elizarova hingegen schöpft aus Graffiti und Street Art, um herrlich skurrile Skulpturen und Installationen zu schaffen. Elizarovas Werke enthalten Fundstücke, die auf die Pop- und Straßenkultur anspielen. Die organisch geformten Objekte wirken so, als seien sie aus den Überresten unserer Konsumgesellschaft gewachsen: Furunkel- und schaumartige Formen aus künstlichen Neonfarben und organische Materie wie Moos, kontrastiert von digital gerenderten Wesen. Dabei schafft es die Künstlerin ihre Skulpturen zeitgleich wie überdimensionale Leckereien zu inszenieren. Arbeiten, wie „The Baker’s Dozen“, sind daher nur schwer auf leeren Magen zu ertragen. Elizarovas ausgeprägte Ästhetik stellt die Grenzen zwischen Kunst und Kitsch, High und Low-Kultur in Frage und spricht eine Generation an, die in der Schwebe zwischen der apathischen Benommenheit des Online und dem drohenden Untergang des Offline gefangen ist. 

Sowohl Niklas Jerochs Skulpturen als auch seine Gemälde sind in leuchtenden Farben gehalten und wie bei Elizarova liegt auch hier die Betonung auf der Textur und organischen Formen. Das Werk „XX“ legt beispielsweise auf der ansonsten schwarzen Leinwand punktuell die darunter liegenden neonfarbenden Farbschichten frei, die die Leinwand wie Narben markieren oder auch an den Blick durch ein Mikroskop erinnern. Wie auf seinen restlichen ausgestellten Leinwänden spielt Jeroch hierbei mit der „verborgenen Wahrheit“ eines Gemäldes.

Katya Quel Elizarova, The Baker's Dozen, 2021, Courtesy the artist

Die speziell angefertigten Rahmen ergänzen oder kontrastieren die geheimnisvollen Malereien. Jerochs 3D-gedruckten keramische Objekte verbinden Hightech- Rendering und -Druck mit organischen Formen, die an Korallen oder mikroskopische Organismen erinnern. So bilden die in einem Trio ausgestellten Skulpturen „ET“, „TET“ und „P1“ eine Installation, die in ihrer Optik an eine Ansammlung zerlaufender Schlammschlösser erinnert. Die Arbeiten des Künstlers sind jedoch offenkundig abstrakt und entziehen sich einer singulären Lesart. Die Besucher*innen werden herausgefordert eigene Assoziationen zu entwickeln.

Die Ausstellung geht über die Sinneswahrnehmung hinaus

Obwohl sich die in „Visible Spectrum“ gezeigten Arbeiten in Form und Inhalt unterscheiden, öffnet die Ausstellung unseren Blick für ein Spektrum, das über die Sinneswahrnehmung hinausgeht. Die Künstler*innen Ana Castillo, Navot Miller, Katya Quel Elizarova und Niklas Jeroch erkunden Sexualität, Sinnlichkeit, Jugendkultur, Identität, Gewalt und Sensibilität als ein ebenso (un)sichtbares Spektrum. Vielleicht können wir so neue Bedeutungsebenen gewinnen – indem wir „zwischen den Wellenlängen“ lesen. Die Ausstellung zeigt damit auf, dass es weder einen objektiven Wahrheitsanspruch, noch die „eine“ Realität gibt. Das notwendige Infragestellen des Sichtbaren, heißt auch ein Infragestellen bestehender Normen.

Niklas Jeroch, ET, TET, P1, 2021, Courtesy the artist
Berlin Tipp

Visible Spectrum

30. Juli – 9. August 2021, Projektraum 145, 145 Invalidenstrasse, Berlin

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