Ein Blick aus dem Lockdown in die Zukunft. Die Ausstellung „Aus heutiger Sicht“ veranschaulicht das unendliche Potential einer zukünftigen Gegenwart und unseren Anteil an deren Entstehung.

Die multimediale Ausstellung  umfasst mehr als 30 Neuproduktionen von Studierenden der HfG und erstreckt sich über sechs thematische Räume des Museums Angewandte Kunst, die mit den Begriffen „Heute“, „Mittel und Wege“, „Manifestationen“, „Irritationen“, „Risiken“ und „Utopien“ überschrieben sind. Ausgangspunkt der Ausstellung ist das 50-jährige Jubiläum der HfG. Seit Anfang 2020 arbeiten Studierende und Lehrende an den Exponaten sowie dem Ausstellungskonzept, das sich die Frage stellt, wie wir in Anbetracht von technologischen und sozioökonomischen Entwicklungen leben werden und welchen Beitrag Kunst und Design dazu leisten können.

Die Zukunft konstituiert sich stets aus der Gegenwart heraus. Anders gesagt: Die Gegenwart ist der Moment, in dem die Zeit erst entsteht, indem sich ein Davor und ein Danach bildet. Die Kunst wird in diesem zeitlichen Gefüge regelmäßig als Seismograph bezeichnet, der die feinen Nuancen und Sinneswandel unserer Gesellschaft aufzeichnet, bevor sie uns selbst im Rückblick deutlich werden. Diese Beobachtung gilt besonders in Zeiten von sozialer oder ökonomischer Unsicherheit.

Wie weit können wir in die Zukunft denken?

Das gilt auch für „Aus heutiger Sicht“, denn im Rückblick wird klar, dass alle der gezeigten Exponate während des Lockdowns entwickelt wurden. Und hierin liegt das entscheidende Moment der Ausstellung: Von welcher Zukunft sprechen wir, wenn sich die Gegenwart im Lockdown kontinuierlich wiederholt? Welche utopischen oder dystopischen Szenarien lassen sich denken, wenn über die unmittelbare Zukunft bloß als gewünschte Rückkehr zu einer vergangenen Normalität gesprochen wird? Wie weit können wir in die Zukunft denken, und wo beginnt diese? Aus dieser Unbestimmtheit der zeitlichen Kontinuität heraus liegen vielen der Exponate die brennenden Themen unserer Gegenwart zugrunde, die von besonderer Dringlichkeit für unsere unmittelbare Zukunft sind: Klimawandel, mediale Überwachung, Konsum, Digitalisierung. Statt also eine ferne Zukunft zu verhandeln, ist die Ausstellung fest im Jetzt verankert.

Installationsansicht, Aus heutiger Sicht, Foto: Günzel/Rademacher © Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main
Installationsansicht, Aus heutiger Sicht, Foto: Günzel/Rademacher © Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

Den Auftakt machen die Arbeiten „Cabin Fever“ und „Facetime“ von Verena Mack. Die beinahe kubistisch anmutenden Illustrationen zeigen verzerrte, langgezogene Gesichter und Gliedmaßen, die die Bildfläche gänzlich ausfüllen. Nicht zuletzt wegen des Titels liegt das Thema Digitalisierung nahe; im Lockdown wurden Videokonferenzen zum ständigen Begleiter der beruflichen und auch privaten Kommunikation. Während die aufgelösten Körper unsere Bildschirmnutzung und unser eigenes digitales Bild thematisieren, lassen die deformierten Figuren und schlauchartigen Extremitäten ebenso Assoziationen zu Datenströmen und endloser Verkabelung zu.

Die tech­no­lo­gi­sche Über­wa­chung wird ad absur­dum geführt

Ebenfalls im digitalen Raum ist gezwungenermaßen die Arbeit „A Record of Time“ von Svetlana Mijic gelagert. Die Videocollage zeigt Material von Live-Webcams, die auf öffentlichen Plätzen, Stränden oder Innenstädten angebracht sind. Die Videos wurden während des weltweiten Lockdowns aufgezeichnet, nur vereinzelt verirrt sich ein Mensch in den Bildausschnitt. Mijics Arbeit veranschaulicht eindrucksvoll das Ausmaß der Pandemie und die weltweiten Auswirkungen auf das gemeinschaftliche Leben. Die wachsende technologische Überwachung des öffentlichen Raums wird während des weltweiten Lockdowns quasi ad absurdum geführt und dennoch bleibt ein beklemmendes Gefühl in Anbetracht der uneingeschränkten Verfügbarkeit dieser Videos.

Verena Mack, Facetime, 2020 © Verena Mack

Der Gedanke einer seismographischen Messung findet sich in Paul Papes „Dust Pictures“ wieder. Auf eine selbstgebaute Staubfiltermaschine spannt Pape seine Leinwände, die Maschine saugt die Umgebungsluft an und fixiert die kleinen Partikel aus der Luft auf der Leinwand. Die Titel der einzelnen, monochromen Werke sind Koordinaten ihrer Entstehung. Die Faszination für Funktionalität und wissenschaftliche Deutbarkeit wird in dem Moment ihrer Entstehung in eine eigene poetische Bildsprache übersetzt. 

Auch die Besucher*innen werden aufgefordert, die eigene Position und Verantwortlichkeit für die Zukunft zu hinterfragen und noch im Museum in eine konkrete Handlung umzusetzen. Auf den freischwingenden hölzernen Platten des „Hell Yes Stores“ (Kathrin Baumgartner, Milena Bassen, Anna Beil, Franziska Grassl, Ines Hanf, Anna Hofmann, Ella Pechechian, Eric Reh, Anna Sukhova, Tanya Tverdokhlebova) lagern zahlreiche braune Boxen, alle versehen mit dem Logo des Stores sowie mit einem QR-Code, der vor Ort gescannt werden kann. Hier können Kunst und Design gekauft werden, bereits für den Transport verpackt. Ein Blick in die Box ist jedoch nicht möglich. Mittels Farbe, Licht und Ton werden die Produkte beworben und die Besucher*innen zum Kauf verführt. Die Arbeit reflektiert die Produktion von Bedürfnissen und damit unsere Rolle im Konsumkapitalismus.

Kathrin Baumgartner, Milena Bassen, Anna Beil, Franziska Grassl, Ines Hanf, Anna Hofmann, Ella Pechechian, Eric Reh, Anna Sukhova, Tanya Tverdokhlebova, , Hell Yes Store, 2020, Ausstellungsansicht, Foto: Günzel/Rademacher © Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

Zwischen den künstlerischen Exponaten finden sich auch konkrete Vorschläge für ein Produktdesign, das sich den Herausforderungen von heute stellt. Die das Licht reflektierende Jacke von Hannah Weirich macht durch den Moiré-Effekt, optische Überlagerungen und starke Reflexionen Überwachungsaufnahmen unkenntlich. Das Computersystem „Linie 39“ von Annika Storch wirft ein Linienraster auf den Boden und markiert damit einen Radius von 1,5 Metern, dank dem sich der Mindestabstand leichter einhalten lässt. Das umfangreiche digitale Angebot zur Ausstellung verdient eine besondere Erwähnung. Neben digitalen Führungen, die mittlerweile zum guten Ton jeder Ausstellungsvermittlung gehören, werden aus dem in der Ausstellung platzierten „Recording Room“ heraus wöchentlich Performances, Vorträge und Gespräche live gestreamt, die zugleich die Analyse des Livestream-Formats ermöglichen. 

Welchen Anteil haben wir an der Gestaltung der Zukunft?

Das Programm des „Recording Rooms“ kann über www.aussicht.space abgerufen werden, einer digitalen Erweiterung des Ausstellungsraumes, in der weiterführende Werktexte zur Verfügung stehen und die Exponate in immer neuen Anordnungen betrachtet werden können. Zudem werden in dem HfG-Podcast „off_line“ die aktuellen Fragen zu den Themen Gestaltung, Kunst und Design aus der Ausstellung mit den Studierenden sowie wechselnden Gästen besprochen. „Aus heutiger Sicht“ ist in dem Moment verortet, in dem die Zukunft gebildet wird. Die Ausstellung ist weder Ausblick, noch Rückblick, vielmehr analysiert sie die Gegenwart als Konsequenz für die Zukunft. Am Ende bleibt die Frage, wo wir beginnen, über Zukunft zu sprechen, und welchen Anteil wir an ihrer Gestaltung haben wollen.

Hannah Weirich, VCU – Me, not recognizable for you, 2019, Ausstellungsansicht, Foto: Günzel/Rademacher © Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main

Aus heutiger Sicht. Diskurse über Zukunft

24. April – 29. August 2021, Museum Angewandte Kunst Frankfrut

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