Er gehört zu den wichtigsten Ereignissen des europäischen Kunstjahres: der steirische herbst in Graz. Im September widmen sich hier Kulturschaffende aus der ganzen Welt dem kontroversen Thema „Volksfronten“.

„Am Eisernen Tor“, einem öffentlichen Platz in Graz, auf dessen Mitte eine mit goldener Marienfigur gekrönte Säule in den Himmel ragt und an siegreiche Schlachten gegen die Türken erinnert, errichten Rosella Biscotto und Kevin van Braak gerade ihre Installation „The Standing Wave“ (2018). Die Italienerin und der Niederländer forschen schon länger zum Verhältnis von Moderne und faschistischer Architektur. Für den steirischen herbst präsentieren sie auf diesem frequentierten Platz mitten in der malerischen Altstadt fiktive Modelle.

Diese setzen sich mit der Formensprache der „Colonie Marine“ auseinander: Badeorte, die in den 1920er- und 1930er-Jahren an den Küsten Italiens errichtet wurden, um Kindern aus armen Familien einen Urlaub zu ermöglichen und sie bei dieser Gelegenheit gleich an die faschistische Ideologie heranzuführen.

Ein kritischer Blick auf die politischen Kontexte der Zeit

Ekaterina Degot, die kürzlich berufene Intendantin des steirischen herbst, hat Biscotto und van Braak zur ersten von ihr geleiteten Ausgabe des Festivals eingeladen. Zuvor programmierte die russische Kunsttheoretikerin die Pluriversale, ein Format der Akademie der Künste der Welt in Köln, und legte politische Konzepte vor, die den Finger in die Wunden der europäischen Gegenwart legen: Entdemokratisierung, Rassismus, rechtspopulistische Vereinnahmung. 1968 ins Leben gerufen, warf auch der steirische herbst immer wieder einen kritischen Blick auf den politischen Kontext der Zeit. In Österreich, wo derzeit die konservative ÖVP zusammen mit der rechtspopulistischen FPÖ regiert, ist er aufgeheizt. 

Rossella Biscotti & Kevin van Braak, Recherchematerial für Cities of Continuous Lines, 2006– und The Standing Wave, 2018 © Die Künstler*innen, Image via www.steirischerherbst.at

Spannung lag auch früher schon in der herbstlichen Luft. 1988 etwa bespielte der deutsche Konzeptkünstler Hans Haake den Platz „Am Eiserenen Tor“ mit der Rekonstruktion eines neoklassischen Obelisken, den die Nazis hier 1938 installiert hatten. Neonazis zerstörten Haakes Werk.

Der Titel „Volksfronten“ des diesjährigen Festivals ist als wohl überlegte Provokation angelegt. Degot will damit auf zwei Lager referieren: „Volksfront“ erinnere einerseits an den Aufstieg von Nationalsozialismus und Faschismus, bezeichne als historischer Begriff aber auch das Sammlungsbündnis sozialistischer, sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien der 1930er-Jahre in Europa, das sich als Reaktion auf den bedrohlich aufsteigenden Faschismus bildete. Heute, so Degot, kämpften wir an vielen kleineren Fronten, das Gemeinsame aber fehle. In der idyllischen Stadt in der Steiermark will sie nun das Lokale auf das Globale treffen lassen und ein neues, gemeinschaftliches Narrativ erkunden.

Wir kämpfen an vielen kleineren Fronten (…) und sind nicht mehr fähig, einen gemeinsamen Schauplatz zu finden oder uns einen gemeinsamen Kampf vorzustellen.

Ekaterina Degot
Irina Korina, Schnee von Gestern (2018), Rendering © Irina Korina

Die eingeladenen KünstlerInnen und TheoretikerInnen kommen zu Ausstellungen und Per-formances zusammen und diskutieren bei Symposien und Talks gemeinsam mit dem Publikum über die (Post-)Faschismen der Gegenwart. Degot hat auch umstrittene KünstlerInnen und Kollektive eingeladen, wie die slowenische Kult-Kunstband Laibach oder den Norweger Lars Cuzner. Den traditionellen Fokus des Festivals auf zeitgenössische Kunst aus Zentral- und Osteuropa will sie weiter stärken, zu dieser Ausgabe beispielsweise mit den Werken der serbischen Künstlerin Milica Tomić. In ihrer Installation „Exhibiting on a Trowel’s Edge. Research and Investigative Processes of Aflenz Memorial in Becoming“ (2018) präsentiert sie Recherchematerialien ihrer forensischen Forschung zu einem von den Nazis im südsteirischen Aflenz an der Sulm errichteten Zwangsarbeitslager. 

Milica Tomić, Recherchefoto für Exhibiting at the Trowel’s Edge, 2018 © Milica Tomić
Milica Tomić, Recherchefoto für Exhibiting at the Trowel’s Edge, 2018 © Milica Tomić

Nur noch wenige bauliche Reste zeugen davon, dass hier und in einer nahegelegenen Fabrik zwischen 1943 und 1945 Häftlinge aus dem österreichischen Konzentrationslager Mauthausen und ZwangsarbeiterInnen Flugzeugteile herstellten. Noch schlummert viel an verdrängter Geschichte in den Städten und Gemeinden Österreichs.

Annäherung an die Angst vor aufkeimenden Faschismen

In einem ironischen Denkspiel erinnert die deutsche Künstlerin Henrike Naumann an den „Anschluss Österreich“, also die 1938 erfolgte Eingliederung als Bundesstaat ins nationalsozialistische Deutsche Reich. Naumann, die sich in ihren Installationen und Videoarbeiten unter anderem mit rechter Jugendsubkultur in Deutschland beschäftigt, imaginiert für „Anschluss ’90“ (2018) nun ein alternatives Geschichtsszenario, bei dem Österreich aufgrund eines völkischen Zusammengehörigkeitsgefühls entscheidet, sich dem wiedervereinten Deutschland anzuschließen. Ironisch nähert sich auch Laibach der Angst vor den neu aufkeimenden Faschismen.

Henrike Naumann, Collage für Anschluss ‘90, 2018 © Henrike Nauman & KOW Berlin, Foto: Inga Selck

Mit ihrer Musik-Performance „Laibach’s Sound of Music“ (2018) parodiert die Band „The Sound of Music“, ein Bühnenmusical aus dem Jahr 1959 sowie dessen spätere Verfilmung. Postfaschistische Bilder zelebrieren darin die alpenländische Identität und erzählen von einem Österreich, das sich beim Anschluss lediglich dem Druck des deutschen Nazismus habe beugen können.

Wie könnte eine kommende Revolution aussehen?

Wie eine kommende Revolution aussehen könnte, fragt das ungarische Duo Igor und Ivan Buharov in einer surrealistischen Präsentation aus Film und performativen Elementen. Einer postsurrealistischen Ästhetik hat sich auch der aus Israel stammende Künstler Roee Rosen verschrieben. Er öffnet das Festivalthema für einen internationalen Konflikt: dem in Palästina. Zusammen mit Hani Furstenberg und Igor Krutogolovs Spielzeug-Orchester inszeniert er „Kafka for Kids and More“ (2018). Bei diesem Screening mit Konzert und Performance machen sie Kafkas „Die Verwandlung“ für Kinder erlebbar, mit populären Formaten aus Comic, Dokumentarfilm, Musical, Fernsehen, Werbung. Allmählich verschiebt sich das Thema, zur Diskussion steht schließlich das israelische Militärrecht, das in den besetzten Palästinensergebieten definiert, wer noch Kind ist und wer erwachsen.

Laibach, Laibach's Sound of Music, Foto: Laibach
Igor & Ivan Buharov, Infectious Courage, 2017, Filmstill

Degot und ihrem kuratorischen Team ist ein vielversprechendes Programm gelungen, das gerade durch die Einbeziehung ortsspezifischer Geschichte und ihrer Betrachtung in einem globalen Kontext neue diskursive Räume öffnet. Für alle, die es nicht nach Graz schaffen, finden sich nach der Eröffnungswoche auch webbasierte Arbeiten auf der Seite des Festivals. Etwa die des Schweden Lars Cuzner. Er gründete schon in Norwegen die „Intelligenzpartei“, mit dem Vorschlag, das Wahlrecht auf alle europäischen und nicht-europäischen EinwohnerInnen auszuweiten, denn, so Cuzner in einer Parodie auf den rechten Themenkatalog, teilten diese doch möglicherweise die Sorgen der konservativen Wählerschaften um familiäre Werte, Religionsfreiheit und den Schutz der kulturellen Identität. Die Parteibotschaft bringt er nun nach Österreich. Wie die EinwohnerInnen des Alpenlandes wohl reagieren? Die zweiteilige Webserie „The Intelligence Party“ (2018) wird ab dem 24. September von den Erlebnissen des Parteichefs in Graz berichten.

Roee Rosen, Produktionsfoto für Kafka for Kids (laufendes Projekt), 2018 © Roee Rosen, Image via www.steirischerherbst.at

Lars Cuzner bei der Programmpräsentation des steirischen herbst, Juli 2018, Foto: Clara Wildberger