Ausgewählte Highlights der Filmgeschichte, in denen die ungezähmte Natur eine besondere Rolle spielt.

Wenn Wildnis vor allem als Abwesenheit des Menschen, mindestens aber seines sichtbaren menschlichen Einflusses verstanden wird, dann lässt sich schon gut das Bearbeitungsfeld wilder Natur im Film skizzieren: verkitscht oder brutalisiert, kann sie Paradies oder Hölle sein. Und manchmal findet sich der Protagonist in ihr bloß selbst wieder. Wann die Natur eine eigenständige Rolle einnimmt, darüber lässt sich streiten – hier fünf Spielfilme, die Urwald, Wüste und Eis in jedem Fall einen besonderen Stellenwert einräumen.

1. „Gerry“ von Gus van Sant (2002)

Zwei junge Männer (Casey Affleck und Matt Damon), die sich beide gegenseitig nur Gerry nennen, begeben sich auf einem Wanderweg in die Wüste hinein. Als sie feststellen, dass der Trail auch von Touristen genutzt wird, weichen sie genervt vom vorgesehenen Weg ab und verlaufen sich innerhalb kürzester Zeit. Gus van Sants „Gerry“ aus dem Jahre 2002 begleitet in wenigen, sehr langen Einstellungen die beiden Protagonisten, die sich wortkarg Insider-Witze zuraunen und zunächst recht unbeeindruckt, später immer verzweifelter aus den unendlichen Weiten der Wüstenlandschaft zu retten versuchen.

Während das warme Sonnenlicht die beeindruckenden Landschaften in den schönsten Farben zur Geltung bringt, zeitigt es gleichzeitig eine unbarmherzige und vollkommen indifferente Umwelt für jegliches Leben, das sich über Intellekt und Verstand definiert und der rohen Naturgewalt nichts entgegenzusetzen weiß, und sich unabdinglich in Nichtigkeit auflöst.  

Gerry, Image via kino.de

NANOUK

Trailer für den Film von Milko Lazarov 

2. „Nanouk“ von Milko Lazarov (2018)

Wildnis, die ist nicht nur undurchdringbare Wälder und tropische Schwüle, sondern auch im ewigen Eis zu finden. In dieser für gewöhnlich gnadenlos lebensfeindlichen Umgebung spielt Ága, der auf der letzten Berlinale Premiere feierte und in Deutschland nun als „Nanouk“ in den Verleih kommt.

Für den namensgebenden Rentierhirten Nanouk (Mikhail Aprosimov) und seine Frau Sedna (Feodosia Ivanova) jedoch liegen die Verhältnisse geradewegs andersherum: Sie sehen ihren Lebensraum durch schmelzendes Eis und kränkliche Beutetiere schwinden; ihre Tochter hat den kargen Alltag bereits in Richtung Stadt verlassen. Werden auch Nanouk und Sedna ihr Leben, das sie niemals anders gekannt haben, aufgeben müssen? Die drohende Veränderung schwebt als Damoklesschwert über dieser unaufgeregten Geschichte zweier Menschen, die so symbiotisch mit ihrer Umgebung sind, dass ihre Existenz unmittelbar von dieser abhängt. Der bulgarische Regisseur Milko Lazarov schafft es, anrührend zu erzählen, ohne rührselig zu werden.

3. „Deliverance“ von John Boorman (1972)

Vier Freunde begeben sich in die ausufernde Wildnis des amerikanischen Georgias, um den Cahulawassee-Fluss mit einem Kanu zu bezwingen. Der ausgelassene Trip mutiert alsbald in eine horrorhafte Tour de Force, in der die vier Protagonisten nicht nur mit unzähligen, gefährlichen Stromschnellen zurechtkommen müssen, sondern sich unvermittelt in einer tödlichen Konfrontation mit den sogenannten Hillbillys wiederfinden.

Der pessimistische Grundton des Films bleibt ambivalent: Steht hier die urbane Arroganz hinsichtlich allem vermeintlich Naturbelassenen am Pranger, oder attackiert Regisseur John Boorman viel eher die Verrohung und Menschenverachtung, die dem sozialdarwinistischen Paradigma vom „survival of the fittest“ anhaftet? Die Schauspieler selbst setzten sich während des Drehs unabhängig davon ungefiltert der „wilden Natur“ aus: Sie mussten aus Kostengründen nahezu alle Stunts selbst durchführen, wenngleich sie, ebenfalls um Produktionskosten zu sparen, keinerlei Versicherungsschutz genossen.

Deliverance, Image via gettyimages.com

4. “Tropical Malady” von Apichatpong Weerasethakul (2004)

Gut eine Stunde lang ist der Dschungel in „Tropical Malady“ allenfalls eine Kulisse neben anderen. Er bildet den Hintergrund für eine Liebesgeschichte zwischen dem thailändischen Soldaten Keng (Banlop Lomnoi) und dem arbeitslosen Tong (Sakda Kaewbuadee), die vor Großstadt-Neon und tropischem Grün sich andeutet, aber stets vage bleibt. Tongs Eltern sind Waldbauern; zwischen Bäumen und Grillenzirpen wird gegessen und ferngeschaut. Auch sonst keine Spur von romantischer Überhöhung der umgebenden Flora und Fauna; ein Gespräch mit einer Dame, die das junge Paar unterwegs aufgabelt, über die fortwährende Rodung der Umgebung etwa verläuft so: ‚Früher war mehr Wald.‘ – ‚Klingt nach Dschungelromantik.‘ – ‚Ja, Romantik voller Malaria.‘

Doch etwa zur Hälfte der Spielzeit der radikale Bruch: Eben noch hat Keng von einem wilden Wesen erfahren, das Dorfbewohner und Tiere auf dem Gewissen haben soll. Eine Weile lang bleibt der Bildschirm schwarz, dann beginnt die Erzählung einer thailändischen Sage. Und die entfaltet sich geradewegs in den grünen Urwald hinein, wo ihre Mythen fruchtbaren Boden finden: Ein Schamane in wechselnder Erscheinung, mal Tiger, mal nackter Jüngling, verfolgt den orientierungslosen Soldaten im düsteren Dickicht, durch das magisch der Schein von Mond und Taschenlampe dringt.

Tropical Malady, Image via www.kfda.be

Stibitzt ihm Habseligkeiten, ob neckisch oder bösartig oder jenseits dieser Dualismen bleibt offen; ein Affe zwitschert mysteriös eine Warnung an den Verirrten, und nach einer vollen, langsam fließenden Stunde stehen sich Tiger und Mensch Auge in Auge gegenüber. Eine Parabel über die unvollendet amourösen Abenteuer des ersten Akts, magischer Realismus, der über jede Narration erhaben ist, angemessene Darstellung der Mensch-Urwald-Problematik oder überstrapaziertes Symbolkino? Weerasethakuls zweiter Spielfilm deckte auf den Filmfestspielen von Cannes das komplette Spektrum ab: Etliche Kritiker verließen das Kino, andere buhten „Tropical Malady“ aus, während die Jury um Quentin Tarantino den Un Certain Regard-Preis für ihn bereithielt.

Tropical Malady, Filmstill