Und woran erin­nern wir uns überhaupt? An welchen Orten wird Geschichte sicht­bar? Maya Schwei­zer beginnt ihre Spuren­su­che in der Kana­li­sa­tion und tastet sich lang­sam an die Ober­flä­che der NS-Geschichte in München.

Stellt man sich die Stadt als Körper vor, so wäre die Kanalisation wohl das Nervensystem. Dann könnte man einen Gang durch die endlosen Wege der Kanalisation als einen Gang durch das Unbewusste beschreiben, stellt das unterirdische Labyrinth doch das Verborgene eines urbanen Lebensraumes dar. Die Analogie ließe sich noch weiterspinnen: Die Kanalisation nimmt all das Ungewünschte, den Unrat, den Schmutz auf und soll ihn wegschaffen, aufarbeiten und wieder nutzbar machen. Vielleicht beginnt deshalb auch Maya Schweizers Film „Voices and Shells“ (2020) in der Münchener Kanalisation: „Es war erstmal ein Versuch, durch eine etwas andere Herangehensweise an diese Stadt ranzukommen“, so die Künstlerin in einem Interview.

Maya Schweizer hat „Voices and Shells“ speziell für die Ausstellung „Stimmen“ angefertigt, in der die Münchener Villa Stuck bis März dieses Jahrs noch zehn weitere Arbeiten der Künstlerin zeigte. In „Voices and Shells“ verwebt Schweizer in einer Film-Collage selbst gedrehte Aufnahmen mit Found Footage-Material, größtenteils Ausschnitte aus Dokumentar- und Spielfilmen. Auch auf der Tonspur sind historische Aufnahmen von Hannah Arendt, Gertrude Stein und Sylvia Plath mit selbstproduzierten Aufnahmen vermischt.

„Voices break through walls. They have accents, doubts, emotions, faces, memories…“ flüstert eine Stimme aus dem Off, während die Kamera Einblicke in das düstere Abflusssystem der Münchener Kanalisation verschafft. Die Erinnerungen, um die es hier offenbar geht, werden sprachlich nie genau auf den Punkt gebracht, das macht viel mehr nach und nach das Bild: Ausgehend vom Münchner Untergrund, umkreist die Kamera an der Oberfläche der Stadt angekommen – der sogenannten „Hauptstadt der Bewegung“ – die Musikhochschule (Sitz des ehemaligen „Führerbaus“), das Haus der Kunst (1937 unter dem Namen „Haus der Deutschen Kunst“ mit der Ausstellung „Große Deutsche Kunstausstellung“ eröffnet) und die Feldherrenhalle (an der Hitler sein „Blutzeugen“-Mahnmal aufstellen ließ).

Voices break through walls. They have accents, doubts, emoti­ons, faces, memo­ries…

Auszug aus „Voices and Shells“
Maya Schweizer, Voices and Shells, 2020 (Film Still) © Maya Schweizer

Die Auseinandersetzung mit individueller wie kollektiver Verdrängung, Aufarbeitung und Erinnerung tauchen in Maya Schweizers Arbeiten immer wieder auf. „Manou, La Seyne-sur-Mer“ (2011) und „Passing Down, Frame One“ (2007) beschäftigten sich mit ihrer jüdischen Großmutter, die die Zeit des Nationalsozialismus in Frankreich nur überlebte, da sie untertauchte und ständig auf der Flucht war. In „A Memorial, a Synagogue, a Bridge, and a Church“ (2012) suchte sie in Bratislava einen Platz nach Spuren einer ehemaligen Synagoge ab, in „Regarde par ici,... Und dort die Puschkinallee“ (2018) ist es ein Wachturm an der ehemaligen Grenze zwischen West- und Ostberlin, der den Ausgangspunkt für die filmische Auseinandersetzung liefert.

Muscheln als stille Zeitzeugen der Geschichte

Als immer wiederkehrendes Motiv neben den Tonfragmenten tauchen auf der Bildebene in „Voices and Shells“ die titelgebenden Muscheln auf, die auch in anderen Motiven immer wieder gespiegelt werden – zum Beispiel durch in sich selbst oszillierende Wendeltreppen oder nicht enden wollenden Wasserstrudel. Es sind Formen, die theoretisch ins Unendliche reichen. Und auch die Muschel kann, je nach Art, bis zu 500 Jahre alt werden. Ein halbes Millennium. Maya Schweizer scheint sie als stille Zeugen der Geschichte zu befragen, über die Geschehnisse jener Zeit in jener Stadt, über die viele lange Zeit kaum sprechen wollten.

Maya Schweizer, Voices and Shells, 2020 (Film Still) © Maya Schweizer
Maya Schweizer, Voices and Shells, 2020 (Film Still) © Maya Schweizer

Als zweiten Film hat sich Maya Schweizer „Le souvenir d‘un avenir“ (Remembrance of Things to Come) des französischen Filmemachers, Schriftstellers und Fotografen Chris Marker ausgesucht. Das 2001 erschienene Werk ließe sich am besten als eine Art filmessayistische Hommage an die französische Fotografin Denise Ballon beschreiben, bei der auch ihre Tochter Yannick Bellon, selbst Regisseurin, mitwirkte. Bellon war Mitbegründerin der „Alliance-Photo“, einem Vorläufer der bekannten Fotoagentur „Magnum Photos“, und eng mit der surrealistischen Bewegung verbunden. So dokumentierte sie 1938 neben Man Ray auch die „Exposition Internationale du Surréalisme“.

Die berühmten Fotos von Salvador Dalis Regentaxi, mit denen Chris Marker „Le souvenir d‘un avenir“ beginnen lässt, stammen allesamt von Bellon. Sie portraitierte etliche Surrealisten und deren Werke, dokumentierte Kriegsversehrte des 1. Weltkriegs, die französische Kolonialherrschaft auf dem afrikanischen Kontinent und die Kriegsvorbereitungen 1940 in Finnland. In den Zeiten der nationalsozialistischen Okkupation Frankreichs tauchte Bellon, die wie Maya Schweizers Großmutter Jüdin war, ebenfalls unter und entging so der Shoah.

Souvenir d'un Avenir – Remembrance of Things to Come — Chris Marker & Yannick Bellon, Image via chrismarker.org

Marker collagiert auf der Bildebene in unvergleichlicher Art Fotos von Denis Bellon, während aus dem Off der Schauspieler Pierre Arditi (in der englischen Version die kanadische Schauspielerin Alexandra Stewart) die Bilder, Weltgeschichte und den persönlichen Lebensweg Bellons einordnet und ineinander verwebt. Vor dem historischen Hintergrund des totalitären, kollektivistischen und menschenverachtenden Wahn, der im 20. Jahrhunderts um sich griff, scheint jedem einzelnen Bild in „Le souvenir d'un avenir“ eine dunkle Vorahnung eingeschrieben, der man sich so viele Jahre danach nicht entziehen kann. Und so auch Denise Bellons eigenem Anspruch mehr als gerecht wird: „Being a photographer means not only to look but to sustain the gaze of others.“

DOUBLE FEATURE

Entdecke noch mehr spannende Video Art im Programm der SCHIRN.

MEHR ERFAHREN