Das grenzenlose Selbst: Dr. Thomas Binder geht für das SCHIRN MAGAZIN der Frage nach, wie begrenzt das Ich von Führungskräften ist.

Was für eine interessante Idee: ein grenzenloses Selbst. Viele Fragen können einem dazu in den Sinn kommen, beispielsweise: 

  • Wie realistisch ist dies aus psychologischer Sicht?
  • Ist dies überhaupt sinnvoll?
  • Was würde dies für Manager bedeuten – und vor allem für das Top Management eines Unternehmens?
     

In diesem kurzen Beitrag möchte ich einige Gedanken aus meiner über zwanzigjährigen Arbeit als Organisationsberater, Psychologe und Coach dazu ausführen. Ich werde dies unter der Perspektive der Ich-Entwicklung tun, einem der besterforschten Ansätze der Persönlichkeitsentwicklung. Denn in keinem anderen Ansatz ist die Entwicklung des Ich (oder Selbst) empirisch so fundiert untersucht worden. Zudem liegen viele Studien zur Ich-Entwicklung von Managern vor, die ich mit meinen eigenen Erfahrungen aus hunderten von Assessments und Coachings dazu illustrieren möchte. 

Wie kann man das Ich und dessen Entwicklung verstehen? 

Das Ich ist nicht mit herkömmlicherweise betrachteten Persönlichkeits­eigenschaften eines Menschen (z.B. Extraversion) oder seiner Identität gleichzusetzen. Dies passiert oft und verwischt den Kern dessen, um was es eigentlich geht. Zudem muss man eigentlich zwei Seiten des Ichs unterscheiden. Eine Unterscheidung die oft nicht vorgenommen wird, aber entscheidende Konsequenzen hat, ist die zwischen dem Ich als Subjekt und dem Ich als Objekt, wie sie in Abbildung 1 zum Ausdruck kommt.

Wenn wir einem Menschen zuhören, der über sich selbst spricht, achten wir darauf, was er sagt, d.h. auf den Inhalt seiner Worte. Sagt ein Geschäftsführer beispielsweise, „ich bin sehr pflichtbewusst und immer dem Erfolg verpflichtet“, dann spricht er über sein „Ich als Objekt“. Er spricht über das, was ihm selbst bewusst ist und was er seinem Selbst als zugehörig empfindet. 

Man kann sich aber auch fragen: Wer gibt dies überhaupt von sich? Denn der Geschäftsführer spricht ja über sich (als Objekt) und gleichzeitig ist da ein Ich, dass diese Selbstdefinition erzeugt. Dieses Ich ist einem selbst kaum bewusst, man kann es daher als „Ich als Subjekt“ bezeichnen. Die Subjektseite des Ichs, stellt somit eher ein „Ich als Prozess“ dar, auf das ein Mensch kaum unmittelbaren Zugriff hat. 

Dieses Ich als Subjekt unterliegt im Zuge der individuellen Persönlichkeitsentwicklung gewaltigen Transformationen. Damit können wir unterschiedliche Stufen der Persönlichkeitsentwicklung unterscheiden, die entscheidenden Einfluss darauf haben, was einem Menschen überhaupt möglich ist und worin seine Grenzen liegen. 

Ein grenzenloses Ich?

Mir kommen dabei zwei Assoziationen in den Sinn: 

  • Ein Ich, das keine Grenzen kennt, weder in seinen Ansprüchen und Wünschen noch in seinem Verhalten.
  • Ein Ich, das grenzenlos ist, d.h. keine Abgrenzung zu seiner Umwelt hat.
     

Beides ist schwer vorzustellen und für die meisten Menschen wohl kaum zu ertragen. 

Das erste Ich wäre eines, das kaum über Impulskontrolle verfügt, was eher ein Zeichen für Menschen mit geringem Reifegrad der eigenen Persönlichkeit ist. Ein Manager, der alles sofort und gleich wollte, seine Impulse nicht kontrollieren kann, wäre wohl kaum in der Lage Menschen zu führen. Und aufgrund seines begrenzten Zeithorizonts, der damit einhergeht, wohl auch nicht in der Lage, ein Unternehmen zu führen. Das zweite Ich ist schwer vorzustellen, weil sich Menschen meist über die Abgrenzung zu anderen definieren. Vielleicht kennen Sie den Spruch „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht!“. Offensichtlich ist ein grenzenloses Selbst schwer vorstellbar, denn die Funktion des Ichs ist es, genau diese Einheit des Ichs sicherzustellen: All das, was man erlebt, zu integrieren und diesem Sinn zu verleihen. Dies kann allerdings auf ganz unterschiedlichen Niveaus der Persönlichkeitsentwicklung geschehen. 

Worin liegen Grenzen des Ichs von Führungskräften? Stufen der Ich-Entwicklung

Mittlerweile ist man aufgrund von gut vier Jahrzehnten empirischer Forschung in der Lage, verschiedene Stufen der Ich-Entwicklung zu unterscheiden und auch valide messen zu können. Auf jeder dieser insgesamt zehn unterscheidbaren Stufen hat  ein Mensch bestimmte Errungenschaften entwickelt und ist gleichzeitig bestimmten Grenzen seines Ichs unterworfen, die ihm selten bewusst sind. Dabei findet eine Art innerer Umstrukturierung dessen statt, was ein Mensch als Teil seiner selbst empfindet und was nicht. Letztendlich geht es daher um die Balance zwischen Subjekt und Objekt, die sich im Zuge der Ich-Entwicklung fundamental verändert. 

„Subjekt“ ist der Aspekt eines Menschen, durch den man selbst gesteuert wird und auf den man daher nur bedingten Zugriff hat. „Objekt“ hingegen ist der Aspekt, den man reflektieren und damit steuern kann. Ein Mensch zum Beispiel, der sich nicht frei machen kann von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen relevanter anderer, der sein eigenes Vorgehen davon abhängig macht, ob andere dies billigen, anstatt mit ihnen in einen offen Diskurs zu gehen, befindet sich noch auf der sogenannten Gemeinschaftsbestimmten Stufe (E4). Damit gehen viele andere Aspekte einher, beispielsweise ein eher rudimentäres Verständnis anderer Personen, stark regelgebundenes Verhalten und eine wenig differenzierte Wahrnehmung. 

Selbst wenn ein Manager einen MBA einer Top Businessschool oder einen Ph.D. vorweisen kann, würde er auf dieser Stufe seiner Ich-Entwicklung kaum in der Lage sein,  eine Top-Management-Position adäquat auszufüllen (vgl. Binder, 2007, Kegan, 1998). Denn solange er nicht in der Lage ist, ausschließlich gemäß seiner eigenen Ansprüche und inneren Haltung zu agieren, hat er noch nicht das Niveau erreicht, das man in der Entwicklungspsychologie als vollständige erwachsene Identität bezeichnet. Mit dieser sogenannten Eigenbestimmten Stufe (E6) gehen weitere Qualitäten einher wie zum Beispiel ein gesundes Maß an Selbstkritik, die Fähigkeit sich an langfristigen Zielen zu orientieren oder die Perspektive anderer Menschen in seine Überlegungen einbeziehen zu können. Allerdings erreicht selbst ein Großteil der Bevölkerung in westlichen Gesellschaften innerhalb ihres Lebens nie diese Stufe der Ich-Entwicklung. Und auch unter hohen Führungskräften können viele noch nicht dauerhaft und in voller Ausprägung auf diesem Niveau agieren (Binder, 2014a, 2016). 

Doch worin liegen prinzipiell die Grenzen des eigenen Ichs auf den jeweiligen Stufen der Ich-Entwicklung? Genaugenommen in dem Bereich, der einem Manager nicht bewusst ist oder der eigenen Steuerung unterliegt. Dieser Bereich ist auf der Subjektseite verortet. Denn die Logik der Ich-Entwicklung besteht darin, dass die Subjektseite eines Menschen im Zuge des Wachstums zu größerer persönlicher Reife immer kleiner und die Objektseite immer größer wird.  Damit ist er immer mehr in der Lage,  bewusst auf seine eigene Handlungslogik zu schauen und sie somit auch verändern zu können. Abbildung 2 soll dieses Wachstum illustrieren.

Genau in diesem Verschieben des Subjekt-Objekt-Gleichgewichts liegt der Kern jeder Entwicklung als Führungskraft. Bei vielen Führungskräften, wie bei den meisten Menschen, kommt diese Entwicklung allerdings im frühen Erwachsenenalter zu einem Stillstand. Ab diesem Punkt findet dann eher Lernen, aber kaum weitere Entwicklung mehr statt. Die neu gewonnenen Erfahrungen und Wissensbestandteile können sozusagen nur mit der immer gleichen Handlungslogik verarbeitet werden. Die meisten höheren Führungskräfte (in westlichen Industrieländern) haben ein Entwicklungsniveau erreicht, dass der Rationalistischen Stufe (E5) oder der Eigenbestimmten Stufe (E6) entspricht. 

Doch die Frage ist, inwiefern dieses Entwicklungsniveau des Ichs für eine immer komplexer und unsicherer werdende Welt und damit auch immer schwerer zu führende Unternehmen gerüstet ist. Heute spricht man von der sogenannten VUKA-Welt (Volatiltiät, Unsicherheit, Komplexität, Ambivalenz; vgl. Lemoine & Eppler, 2015). Für diese Welt ist ein Manager  auf postkonventionellem Niveau der Ich-Entwicklung besser ausgestattet. Ein solches Führungs-Ich hat sich von traditionellen eher heroischen Führungsbildern verabschiedet, ist in der Lage, sich beständig zu hinterfragen und mit Widersprüchen umzugehen. Es erkennt die Vernetzung und Wechselseitigkeit, die jedes komplexe System heute prägt und verfügt über ein Bewusstsein, das vielschichtig innere und äußere Aspekte wahrnehmen und verarbeiten kann. Ein solches Ich auf der systemischen Stufe der Ich-Entwicklung (E8) ist sehr selten. Ungefähr nur vier bis fünf Prozent aller Führungskräfte erreichen jemals diese Entwicklungsstufe. 

Führungskräfte allerdings, die sich selbst diese Lebensaufgabe stellen und die diesen inneren Weg bewusst und geduldig beschreiten, können die Grenzen ihres bisherigen Ichs immer mehr weiten. Damit gelangen sie zu einem Ich, das sich selbst immer mehr transformieren kann (Torbert, 2004) und damit auch zu wirklich transformativer Führung in der Lage ist. Allein gelingt dies nur selten, insofern braucht es dazu geeignete Sparringspartner. Denn das, was Wissenschaftler in Längsschnittstudien als besondere Stabilität des Ichs beschreiben, diese Hartnäckigkeit auf dem erreichten Entwicklungsniveau zu verharren, ist meist nur mit adäquater Unterstützung aufzubrechen. Dies geht weit über traditionelle Angebote der Führungskräfteentwicklung hinaus. 

Erreicht ein Manager diese systemische Stufe der Ich-Entwicklung, hat er wesentlich weniger und vor allem flexiblere Grenzen. Die wenigen Menschen, die sich noch weiter auf den Weg machen und über die Kraft und Beharrlichkeit dazu verfügen, gelangen vielleicht eines Tages zu einem Selbst auf der Fließenden Stufe (E10). Momentan scheint dies eher eine Minderheit zu sein – weniger als ein Prozent aller Menschen gelangen dorthin. Ein Selbst, das zwar nicht grenzenlos, aber in der Lage  ist, die Grenzen des eigenen Ichs immer mehr zu durchschauen.

Über den Autor:

Dr. Thomas Binder ist Dipl.-Kaufmann, Dipl.-Psychologe, systemischer Supervisor (SG), Mediator (BM), international tätiger Organisationsberater mit Schwerpunkt Change Management, Führungskräfteentwicklung und Coaching

Kontakt:
binder@consulting-group-berlin.de
www.i-e-Profil.de

Illustration: Jan Buchczik

Literaturverzeichnis:
  • Binder, T. (2007). Piagets Erbe für die Wirtschaft: Entwicklungspsychologische Managementdiagnostik. Wirtschaftspsychologie Aktuell, 14 (2), 56-58.
  • Binder, T. (2012). Entwicklungsorientiertes Coaching mit Führungskräften: Arbeit mit dem Ich-Entwicklungs-Profil. Vortrag, Tagung Integrales Forum, Berlin.
  • Binder, T. (2014). Das Ich und seine Facetten. Change Professionals unter einer Entwicklungsperspektive. OrganisationsEntwicklung, 1, 9-15.
  • Binder, T. (2016). Ich-Entwicklung für effektives Beraten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Kegan, R. (1998). In over our heads. The mental demands of modern life. Cambridge: Harvard University Press.
  • Lemoine, J. & Eppler, M. J. (2015). Angemessen antworten. Ein Gespräch mit Jim Lemoine über den Einfluss von VUCA auf das Führungsverhalten. OrganisationsEntwicklung, 4, 4-6.
  • Torbert, W. et al. (2004). Action inquiry. The secret of timely and transforming leadership. Berrett-Koehler.