Veränderungen in der Arbeitswelt und Gesellschaft kündigen sich auf fast unsichtbare Art im Gewebe der materiellen Kultur an. Gerade solchen Spuren zu folgen, ist die Spezialität von Elizabeth Price – wie sie am Beispiel der Krawatte beweist.

In der Videoarbeit „FELT TIP“ (2018) erzählt die 1966 geborene Künstlerin Elizabeth Price am Beispiel der Krawatte von einer Veränderung in der Arbeitswelt und Gesellschaft, die sich im Zuge von Digitalisierung und Neoliberalismus abspielt. Allerdings tut sie dies  in Form einer Science-Fiction-Geschichte. Über ein Zweikanalvideo im extremen Hochformat – zwei Monitore hängen hochkant übereinander – spricht eine Computerstimme, die man als weiblich lesen kann, während auf der Tonspur auch sonst viel passiert. Ein Kippschalter klackt, dann fängt der Lüfter eines Computers leise an zu surren, eine Festplatte ruckelt. “This is the executive level”, beginnt die Stimme. Später steigert sich elektronische Musik zu einem allmählichen Crescendo, das einen erzählerischen Sog erzeugt, der in sonderbarem Widerspruch zum kühlen, distanzierten Ton der Erzählung steht.

Von Filzstiften und Krawatten

Der Titel „FELT TIP“, also Filzstift, spielt mit einer doppelten Bedeutung: Einerseits hat ein dicker lila Filzstift eine rätselhafte Rolle, der, 3D-gerendert in ein leeres Wasserglas fallen gelassen wird. Andererseits geht es um Krawatten, die schließlich auch so etwas wie angespitzter Filz sind. Auch der Ursprung der Arbeit ist doppelt besetzt. Ein lila Filzstift fiel der Künstlerin auf, als sie eine gebrauchte Ausgabe von Reimut Reiches „Sexuality and Class Struggle“ – auf Deutsch: „Sexualität und Klassenkampf“, 1969 erschienen – kaufte. Die Vorbesitzerin (Price ist sich sicher, dass es eine Frau war) hat den Text des Soziologen und Sexualforschers kommentiert und dabei einen maximal auffälligen lila Filzstift benutzt. Price gefiel der ironische Ton der Anmerkungen und der respektlose Umgang mit der Schrift des marxistischen Autors. Der zweite Ursprung ist Price’ persönliche Sammlung von Krawatten aus den 1970ern und 1980ern – von ihnen erzählt dieses Video. Schwarz-weiße Nahaufnahmen von Krawatten werden übereinandergelegt, und das extreme Format der Arbeit nimmt die lange Form dieses sonderbaren Accessoires noch einmal auf.

Vielleicht hat die Verschiebung innerhalb der Arbeits- und Lebenswelt, die Price beschreibt, ihren Ursprung im Wandel des britischen Bildungssystems, das durchlässiger wurde und mehr Menschen – Migrant*innen und Kindern von Arbeiter*innen – Zugang zu Universitäten und White-Collar-Jobs erlaubte. Das ist einer Reihe von Reformen in Großbritannien geschuldet: 1962 wurde der Education Act umgesetzt, der Studierende durch Stipendien unterstützt. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wurden Gesetze verabschiedet, um die Gleichstellung von Männern und Frauen sicherzustellen und rassistische Diskriminierung zu verhindern.

Elizabeth price, Felt Tip, Ausstellungsansicht Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2023, Foto: Esra Klein
Eine Sozialgeschichte von Verbesserungen und Neuerungen

Diese Sozialgeschichte, die von allmählichen Verbesserungen und Neuerungen innerhalb der Berufswelt zeugt, beobachtet die Erzählerinnenstimme in Price’ Video anhand von Krawattenmustern. Denn die Krawatte war in den Jahrzehnten davor Symbol für eine Elite mit Zugang zu Vermögen und Bildung, für diejenigen also, die sich bei ihrer Arbeit die Hände nicht schmutzig machen mussten. Aber allmählich verschoben sich die alten Ordnungen, die Arbeitswelt veränderte sich. Nur die Krawatten blieben, wie ein Überbleibsel alter Hierarchien. Zumindest für eine Weile. Denn die kulturellen Signifikanten, die Zugehörigkeit zu einer gebildeten Elite signalisieren, wandelten sich, oder genauer: Sie wurden trivial. Die Wappen auf Krawatten, die einst die Zugehörigkeit zu Klubs, Eliteinstitutionen und aristokratischen Familien bedeuteten, wurden nun auf preiswerte, massenproduzierte Ware gestickt: Wenn der Schlips zur Kleiderordnung im Büro gehört, brauchen alle einen. Nur die Wappen bedeuteten nichts mehr, mehr noch, so die Erzählerin, sie wurden zur Parodie.

Price’ Video erzählt von einer dystopischen Gemengelage innerhalb der Lebens- und Arbeitswelt, deren Ursprünge irgendwo in den 70ern liegen. Oder vielleicht auch schon früher, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kybernetik für einige Zeit zur Metawissenschaft für viele Gesellschaftsbereiche wurde, als bald auch die ersten raumgroßen Computer mit ihren Lochkarten Einzug in die verwaltete Welt hielten. Die Fließdiagramme jener Zeit sahen eh schon aus wie Schaltpläne für Computerchips. Etwas später, ebenfalls Ende der 1970er schufen Maler wie der New Yorker Peter Halley Gemälde, die an Leitungen oder kybernetische Diagramme erinnern.

Als gäbe es da ein neues Narrativ, das alle Bereiche visueller Kultur durchdrang, passierte auch mit den Krawattenmustern etwas: Sie wurden eckiger, abstrakter. Die Wappen verschwanden, und an ihrer Stelle tauchte ein anderes Symbol auf, wie ein kleines Piktogramm. Das mag an einem wiedererwachten Interesse an der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts liegen, räumt Price in einem Vortrag ein, aber eigentlich bezweifelt sie nicht, was hier wirklich dargestellt ist: ein Speicherchip.

Eine kontrafaktische Erzählung

Eine steile These, die Price zur unbequemen Fiktion verwebt, indem sie eine bisher verborgene Erzählung des 20. Jahrhunderts fabuliert. Denn trotz der analogen Wärme, die manchmal von „FELT TIP“ ausgeht, und trotz der beinahe niedlichen Geschichte vom Festhalten an alten Symbolen, steckt in dem Video auch eine Dystopie. Ihr Ausgangsmaterial biegt Price zu einer kontrafaktischen Erzählung zurecht, die wie alle guten Science-Fiction-Geschichten fest in unserer Wirklichkeit verankert ist. Die Erzählerin, deren Stimme die Künstlerin aus drei verschiedenen synthetischen Stimmen zusammengesetzt hat, spricht von Verwaltungsangestellten, deren Körper als Behältnisse von Informationen benutzt werden, indem ihre DNA mit Daten überschrieben werden, genauer: die DNA in Zellen ihrer Fingerspitzen. Und das ist eigentlich nur ein bisschen überzeichnet, denn im Mai 2021 pries ein Artikel in der Zeitschrift „Scientific American“ die Möglichkeiten der Datenspeicherung in DNA an. Sie sei weniger teuer und energieeffizient, nur bei der Lesegenauigkeit gebe es noch Schwierigkeiten

Elizabeth Price, Felt Tip, 2018 (c) Elizabeth Price
Enough with the Bullshit Jobs!

In „FELT TIP” ebenso wie in der Welt der Informationsökonomie generell bleibt die Frage jedoch unbeantwortet, was genau da eigentlich gespeichert wird. Aber das ist vielleicht auch nebensächlich, denn spätestens seit dem Aufstieg der vom Anthropologen David Graeber so genannten „Bullshit Jobs“ ist der Zweck zahlreicher Arbeitsformen fragwürdig – ganz zu schweigen von ihrem Sinn für die Gesellschaft. Ein Bullshit Job, so definiert Graeber, ist eine bezahlte Tätigkeit, in der selbst die Person, die sie verrichtet keinen Sinn in ihr zu erkennen vermag – obwohl sie so tun muss, als wäre das der Fall. Graeber datiert den Ursprung der Bullshit Jobs übrigens auf den Moment, in dem auch Elizabeth Price das Entstehen der neuen, digitalen Manager*innenklasse verortet: in den späten 70ern, als der Neoliberalismus Effizienz versprach, als weite Teile der Industrie im Westen zurückgebaut wurden, und das nirgendwo so radikal wie in Großbritannien. Gewerkschaften wurden entmachtet, und faire Löhne wurden ersetzt durch das Versprechen, dass Büroarbeiter*innen im Job Sinn und Zuhause finden. Gleichzeitig explodierten die Jobs im Informationssektor, die als Teil der sogenannten „knowledge work“, spezifisches Fachwissen voraussetzen. Graeber gelangt zu der Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus nicht hält was er verspricht, nämlich effiziente, sich selbst regulierende Arbeitsabläufe zu kreieren. 

Elizabeth Price, Felt Tip, Ausstellungsansicht Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2023, Foto: Esra Klein

Vielleicht geht Price’ Kritik in eine ähnliche Richtung. Ihre Videos lassen sich zugleich ironisch und spielerisch lesen, denn irgendwie geht es auch um die Verniedlichung der Arbeitswelt, eine Umgebung, in der männliche Dominanz durch die Zurschaustellung der Krawatte, des uralten Phallussymbols, sichergestellt und zugleich unterwandert wird. In Price’ Video laufen und tänzeln immer wieder Frauenbeine in High-Heels über den oberen Screen. Die Krawatte ist nur noch ein leeres Symbol, ein bisschen wie Teile der digitalisierten Arbeitswelt mit ihren Bullshit Jobs. „Der älteste, abgetragenste Witz”, sagt die Erzählerin, „ist immer noch die Krawatte selbst.”

ELIZABETH PRICE. SOUND OF THE BREAK

23. MÄRZ – 29. MAI 2023

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