Auf der diesjährigen Berlinale scheint sich die Realität stärker als in den Vorjahren auf der Leinwand zu manifestieren. Wir zeigen unsere Lieblingsfilme im Überblick.

„Being in a place“ heißt ein Film des Künstlers Luke Fowler, der auf der diesjährigen Berlinale gezeigt wurde. Und tatsächlich scheint die Realität, scheinen die realen Geschehnisse vor Ort sich stärker als in den Vorjahren auf der Leinwand zu manifestieren. Es wurde konkreter statt versponnener, auch in den Formen: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine war ebenso deutlich spürbar wie die Aufstände in Iran und an anderen Orten der Welt. Viele der besten Filme gab es dabei traditionell gerade nicht im Wettbewerb, sondern in Sektionen wie dem Forum zu sehen. Was ihre Chance, einmal im Kino oder zunehmend auch beim Streamingdienst des Vertrauens zu landen, hoffentlich nicht schmälert.

„BlackBerry" von Matt Johnson

Kanada, irgendwann in den 1990er-Jahren. Eine Handvoll Technik-Geeks erfindet ein Gerät, das Mobiltelefon, E-Mail und Internet zusammenbringt. „Wer sollte so etwas wollen?“, brummt der potenzielle Investor, dem Mike Lazaridis (Jay Baruchel) und Douglas Fregin (Matt Johnson) unbeholfen versuchen, die eigene Idee zu verkaufen. Wenige Jahre später wird ihr Unternehmen Millionen wert sein und etliche Nachahmer*innen auf den Plan rufen. Geschichten vom rasanten Auf- und ebenso raschen Wiederabstieg sieht man regelmäßig auf der Kinoleinwand, aber kaum so bestechend in Form und Spiel übersetzt wie in „BlackBerry“. Der kanadische Filmemacher Matt Johnson, der sich in seinen Mockumentaries auch gern selbst zum Vorreiter des Albernen macht, findet eigene Blickachsen auf das vielerzählte Sujet. Mit rasantem Schnitt, ungewöhnlicher Kamerawahl und einer Besetzung, die nahezu ausschließlich auf Comedians und befreundete Laien setzt, kristallisiert dieser Film die Grundfesten des Kapitalismus, der befeuert und zerstört, was er liebt, ebenso zum Greifen nah heraus wie die Geschichte der technischen Mittel, in denen er sich manifestiert.

Matt Johnson: BlackBerry, Filmstill, Sektion: Wettbewerb 2023 © Budgie Films Inc.
Matt Johnson: BlackBerry, Filmstill, Sektion: Wettbewerb 2023 © Budgie Films Inc.
„Superpower" von Sean Penn & Aaron Kaufman

Gleich mehrere Filme in diesem Jahr zeugen direkt vom russischen Angriffskrieg und dessen Auswirkungen auf die Ukraine. Schon ab 2021 besuchte Sean Penn mit Aaron Kaufman regelmäßig das osteuropäische Land, um mehr über seinen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu erfahren. Auch am 24. Februar 2022 drehen die beiden gerade in Kiew, als die ersten Explosionen die Stadt erschüttern. Mit „Superpower“ erscheint nun ihr bisweilen etwas reißerischer Reportage-Film im Vice Magazine-Stil, der trotz all seiner offensichtlichen Schwächen ein zeithistorisches Dokument darstellt, das das kaum Vorstellbare festhält: ein Interview Sean Penns mit Selenskyj in der Nacht der russischen Invasion.

Sean Penn und Aaron Kaufman: Superpower, Filmstill (c) 2022. The People's Servant, LLC. All Rights Reserved, Image via berlinale.de

„W Ukrainie" von Piotr Pawlus & Tomasz Wolski

Filmisch wie auch emotional aber deutlich nachdrücklicher sind die ukrainischen beziehungsweise polnischen Beiträge:  „W Ukrainie“ tritt die Reise vom Westen des Landes in Richtung Osten an. Kommentarlos fangen die Filmemacher Szenen eines neuen Alltags in der Ukraine ein: Ausgebrannte russische Panzer, die von vorbeifahrenden Passant*innen fotografiert werden, als gehöre der Krieg schon der Vergangenheit an. Ausgebombte Dörfer, kaputte Autobahnen. Menschen bei der Essensausgabe, schlafende Passant*innen in U-Bahn-Stationen, umherstreunende Hunde, die von ihren Besitzer*innen vielleicht zurückgelassen werden mussten, notdürftige Reparaturen an Wohnhäusern. Und schließlich Soldaten*innen unweit der Frontlinie, wartend, nur unweit entfernt von heftigen Detonationen.

Piotr Pawlus & Tomasz Wolski: W Ukrainie, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Piotr Pawlus
Piotr Pawlus & Tomasz Wolski: W Ukrainie, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Piotr Pawlus
„Shidniy front" von Vitaly Mansky & Yevhen Titarenko

In „Shidniy Front“, der östlichen Front, führen die Bilder, die Yevhen Titarenko tagtäglich dreht, noch tiefer in den Abgrund alltäglicher Grausamkeit. Schon seit 2014 arbeitet der Filmemacher bei einem freiwilligen Sanitätsbataillon, das verwundete Soldaten*innen aus dem Kampfeinsatz zu retten versucht. Die Tausenden von Stunden an Videomaterial, die er seit dem letzten Februar dabei aufgenommen hat, schnitt er zusammen mit dem russisch-ukrainischen Dokumentarfilmer Vitaly Mansky zu der bestürzenden Momentaufnahme eines Landes im Verteidigungskriegs. Der Film zeigt Yevhen mit Freund*innen  und Familie in freien, fast sorglos wirkenden Stunden, in denen alle ausgelassen Spaß haben. In ausgesprochen reflektierten Gesprächen ist der Krieg jedoch allgegenwärtig, dessen Auswirkungen man dann in den kaum erträglichen Aufnahmen aus dem Frontgeschehen selbst zu sehen bekommt. Einblicke in die ukrainische Lebensrealität 2022, die nach wie vor andauert.

Vitaly Mansky & Yevhen Titarenko: Shidniy front, Sektion: Encounters 2023, Filmstill © Vertov
„Jaii keh khoda nist" von Mehran Tamadon

Lassen sich erlebte Traumata vermitteln? Dieser Frage geht Mehran Tamadon in seinem dokumentarischen Film nach. Wo Gott sich nicht befindet, so der englische Untertitel, erfahren wir gleich zu Beginn: In einer leeren Lagerhalle am Rande von Paris baut Tamadon mit Hilfe von drei ehemaligen Insass*innen iranischer Gefängnisse deren Zellen und jene Instrumente nach, mit denen die dort Weggesperrten gefoltert wurden. Es ist kaum zu ertragen, mit anzusehen, wie die Opfer des iranischen Regimes mitunter in die Rolle ihrer einstigen Täter*innen schlüpfen, um das Erlebte ihrem Gegenüber und sich selbst begreiflich zu machen; wie nie vollständig verdrängte Erinnerungen wieder hochkommen und das Leid sich auch physisch wieder Bahn bricht. Die Traumata, das sieht man den drei fürs Leben Gebrandmarkten an, lassen sich kaum vermitteln, aber in den Gesichtern erahnen. Das Gefängnis wirkt derweil wie eine lebenslange Strafe fort, die auch nach der Haft niemand so recht loswird.

Mehran Tamadon: Jaii keh khoda nist, Filmstill, Sektion: Forum 2023 © L’Atelier Documentaire
Mehran Tamadon: Jaii keh khoda nist, Filmstill, Sektion: Forum 2023 © L’Atelier Documentaire
„Reality" von Tina Satter

Schon seit jeher hadert das Kino mit der Frage: Wie eine wahre Begebenheit nacherzählen, und warum überhaupt? Den jeweiligen Ergebnissen sieht man  in zuverlässiger Regelmäßigkeit so dann auch ihre Ratlosigkeit an, hin- und hergerissen zwischen aufklärerischem oder dokumentarischem Bedürfnis und Unterhaltungswillen. In ihrem Spielfilmdebüt umgeht die Theaterregisseurin Tina Satter gekonnt die Fallstricke eines solchen Unterfangens. Vordergründig inszeniert der Film das Verhör der Whistleblowerin Reality Winner durch das FBI in ihrem eigenen Zuhause. Das Skript basiert jedoch Wort für Wort auf den Tonaufnahmen des Verhörs – die Darsteller*innen performen dieses im wahrsten Sinne als Reenactment. Der gruselige Schauer des Alltäglichen, der sich in Versprechern, grammatikalischen Ungereimtheiten und erzwungenem Smalltalk langsam ausbreitet, macht den Film zu einer ebenso brillanten Meta-Studie über Schauspielerei wie zu einer eindringlichen Inszenierung jener staatlichen Gewalt, die, einmal auf ein Individuum angesetzt, unaufhaltsam ihre Macht entfaltet. Ein kafkaesker Albtraum.



Tina Satter: Reality, Filmstill, Sektion: Panorama 2023 © Seaview
„Sur l’Adamant" von Nicolas Philibert

Der Goldene Bär ging in diesem Jahr nicht an einen Spielfilm, sondern würdigte eine Dokumentation. In „Sur l’Adamant“ begleitet Nicolas Philibert den Alltag auf dem gleichnamigen Hausboot in Paris: eine außergewöhnliche psychiatrische Tagesklinik, deren Patient*innen hier weitestgehend selbstbestimmt musizieren, malen, zeichnen oder Texte verfassen können. Als Zuschauer*in folgt man nicht nur den außergewöhnlichen, tiefsinnigen, urkomischen, bisweilen auch beängstigenden Gedankengängen der Protagonistinnen und Protagonisten, sondern staunt über die nie zuvor gehörten Kompositionen und Texte, die nie gesehenen Bilder, die sie auf der Adamant kreieren. Zur romantischen Verklärung, wie sie auch bei der Berlinale-Jury anklang, taugt diese Dokumentation allerdings gar nicht so sehr. Gerade weil Philibert den Patient*innen der ungewöhnlichen Tagesklinik auf Augenhöhe begegnet, weiß er (wenngleich zaghaft) auch von ihren tagtäglichen Qualen und dem Hadern mit der eigenen Erkrankung zu berichten. Es sei dumm, auf Medikamente zu verzichten, erklärt da zum Beispiel einer. Allein mit Kunst und Poesie ist es offenbar nicht getan – doch dass sie helfen, bleibt in diesem Film unbestreitbar.

Nicolas Philibert: Sur l’Adamant, Sektion: Wettbewerb 2023, Filmstill © TS Production / Longride
Nicolas Philibert: Sur l’Adamant, Sektion: Wettbewerb 2023, Filmstill © TS Production / Longride
„Art College 1994" von Liu Yiang

„Fuck Duchamp!“ Mag die westliche Kunstgeschichte auch erst seit kurzer Zeit ins Land strömen, tut sie es in China mit Macht. So haben sich die Protagonist*innen in diesem Film schon rasch eine dezidierte Meinung zu ihren Auswüchsen gebildet: Konzeptkunst, Tracey Emin, abstrakte Malerei und Beuys, Kunst, die sich bei Ausländer*innen gut verkauft und traditionelle chinesische Kunst, die das Atelier im Gegensatz zur westlichen Variante immerhin nicht „wie eine Müllhalde“ ausschauen lässt. Mit seinem lakonischen Animationsfilm „Art College 1994“ erzählt Liu Yiang die Öffnung seines Landes exemplarisch durch eine Gruppe lose befreundeter Kunststudent*innen, die ohne falsche Illusionen, aber mit staubtrockenem Humor und dem nötigen Größenwahn einer jungen Kunstgeneration, universitäre Ideologie-Seminare, Kunstmarkt und die ganz großen Fragen des Daseins diskutieren. „Art College 1994“ ist, wie nicht wenige chinesische Filme dieser Tage, ein retrospektiver Blick auf die Ereignisse – an einem Ort, dessen Zeichen aktuell eher wieder auf Abschottung stehen. Eine filmgewordene 90er-Jahre-Nostalgia aus chinesischer Perspektive, die nebenbei erstaunlich universell vom Dasein an der Kunstakademie erzählt.

Liu Jian: Art College 1994, Filmstill, Sektion: Wettbewerb 2023 © Nezha Bros. Pictures Company Limited, Beijing Modern Sky Culture Development Co.
„Being in a Place. A Portrait of Margaret Tait" von Luke Fowler

„I am not a camera person“, bemerkt Margaret Tait, die Schriftstellerin und Filmemacherin, an einer Stelle in dem Film, den der britische Künstler Luke Fowler als titelgebendes Porträt der Künstlerin anfertigte. Die Kamera, ihre Technik sind ihr nicht Mittel zum Zweck, das wie ein neutrales Instrument virtuos beherrscht werden müsste, um Botschaften, Kommentare, festgeschriebene Stories in ein Ad hoc festgeschriebenes Format zu bringen. Vielmehr ist es die Arbeit mit der 16mm-Kamera vor Ort selbst, das Festhalten ihrer Lebensumgebung, der schottischen Insel Orkney, ihrer Menschen und Landschaften, die Tait (1918–1999) interessierten. Filmische poems eben, wie die Künstlerin ihre eigenen Werke nannte. Dass es dafür auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk schon seinerzeit wenig Interesse gab, belegt ein entwaffnend ehrlicher Briefwechsel zwischen Margaret Tait und einem Produzenten der BBC aus dem Jahr 1971. Fowler hat Dokumente wie dieses, Drehnotizen und filmisches Archivmaterial zusammengetragen und durch neu gedrehte Sequenzen auf der Insel Orkney zu einer kinematischen Collage ergänzt, die eine Hommage und zugleich den Versuch einer Fortführung von Taits künstlerischem Selbstverständnis darstellt.

Luke Fowler: Being in a Place – A Portrait of Margaret Tait, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Courtesy of Luke Fowler, The Estate of Margaret Tait and The Modern Institute/ Toby Webster Ltd, Glasgow
Luke Fowler: Being in a Place – A Portrait of Margaret Tait, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Courtesy of Luke Fowler, The Estate of Margaret Tait and The Modern Institute/ Toby Webster Ltd, Glasgow
Luke Fowler: Being in a Place – A Portrait of Margaret Tait, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Courtesy of Luke Fowler, The Estate of Margaret Tait and The Modern Institute/ Toby Webster Ltd, Glasgow
„The Adults" von Dustin Guy Defa

Eigentlich war der kurze Trip in dieHeimatstadt für Eric (Michael Cera) lediglich ein Pflichtbesuch: schnell das Neugeborene von alten Freund*innen sehen, dann für ein paar Stunden bei den jüngeren Schwestern vorbeischauen und im besten Fall noch ein Pokerspiel unterbringen. Doch Eric verlängert den Aufenthalt immer wieder um einen Tag: ist es das verlorene Pokerspiel, dem einzigen, was Eric noch Halt im Leben zu geben scheint, oder das zerrüttete Verhältnis zu seinen Schwestern Rachel (Hannah Gross) und Maggie (Sophia Lillis)? Dustin Guy Defa gesteht in seinem tragikomischen Indie-Film den Protagonist*innen so viel psychologische Tiefe zu, dass diese sich gerade deshalb in ihrer verunsicherten Sprachlosigkeit zu ebenso komplexen wie vulnerablen Charakteren entwickeln, mittels derer „The Adults“ zu einer emotionalen Achterbahnfahrt wird, die auf die eine oder andere Weise jede*r aus seinem ganz eigenen Leben kennt.

Dustin Guy Defa: The Adults, Sektion: Encounters 2023, Filmstill © Universal Pictures Content Group
„Knochen und Namen" von Fabian Stumm

Schon länger sind der Schauspieler Fabian (Fabian Stumm) und der Schriftsteller Jonathan (Knut Berger) ein Paar. Der eine beginnt gerade die Drehproben zu einem ambitionierten Film über eine schmerzhafte Trennung, der andere recherchiert zu seinem neuen Roman, der sich mit Tod und Abschied auseinandersetzt. Unterschwellig scheinen die kreativen Beschäftigungsfelder jedoch immer weiter in die Beziehung hinüberzuschwappen, oder ist es genau umgekehrt? Fabian Stumm, der in seinem Spielfilmdebüt neben der Regie auch die Hauptrolle übernahm, gelingt eine Beziehungskomödie, die man in hiesigen Gefilden kaum zu sehen bekommt: gewitzte, intelligente Dialoge und eine Inszenierung, die weder Albernheiten, Dramatik noch Tiefgang scheut und dabei beiläufig auch die eigene Zunft reflektiert. 

Fabian Stumm: Knochen und Namen, Sektion: Perspektive Deutsches Kino 2023, Filmstill © Postofilm
 „Past Lives“ von Celine Song

In ihrem Debütfilm „Past Lives“ erzählt die New Yorker Dramatikerin Celine Song künstlerisch verfremdet ihre eigene Geschichte. Es ist die Geschichte einer koreanischen Familie, die in den USA ein besseres Leben sucht und deren Kinder als Erwachsene zunehmend mit Identitätsfragen hadern – so wie Nora (Greta Lee), die mit Arthur (John Magaro) zusammenlebt, aber immer noch an ihren koreanischen Schulfreund Hae Sung (Teo Yoo) denken muss. Während der erste Teil charmant, aber eher konventionell erzählt wird (und es mit fröhlicher RomCom-Musik beinahe ein wenig übertreibt), entwickelt Celine Songs Debütfilm gerade in seiner zweiten Hälfte einen unwiderstehlichen Sog. Eine asiatisch-amerikanische Migrationsgeschichte, die ihre kluge Geschichte ganz aus den hervorragend besetzten Protagonist*innen entwickelt und es gerade deshalb schafft, von hier ausgehend die existenziellen Dilemmata der menschlichen Existenz zu verhandeln: Zählt die Vergangenheit mehr als die Gegenwart? Wer wäre man selbst an einem anderen Ort geworden? Und wie mit den Geistern der Vergangenheit umgehen, wenn sie in Form leibhaftiger Menschen vor einem stehen?

Celine Song: Past Lives, Sektion: Wettbewerb 2023, Filmstill © Jon Pack
„Mammalia" von Sebastian Mihăilescu

Ein Zirkel weißgekleideter Frauen und Männer, die Fruchtbarkeitsrituale in einem Waldsee durchführen; eine junge Frau, der ein Armknochen die Treppe hinabfällt und ein seltsames Wohnhaus, bei dem man nicht weiß, ob der Horror real ist oder zum Filmdreh gehört – waren Szenarien wie aus einer anderen Welt auf dieser Berlinale seltener vertreten, konnte man bei Sebastian Mihăilescu in die Untiefen filmischer Seltsamkeiten eintauchen, die freilich ganz ohne Tricks und doppelten Boden auskamen. Der junge Regisseur führt die Tradition osteuropäischer Surrealismen weiter und agiert dabei ganz in der eigenen Logik. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man also Filme machen. Am Ende einer grotesken Tour de Force vor idyllischer rumänischer Landschaft ist der Mann schwanger und der Penis- findet sein Pendant im Gebärneid.

Sebastian Mihăilescu: Mammalia, Sektion: Forum 2023, Filmstill © microFILM
Sebastian Mihăilescu: Mammalia, Sektion: Forum 2023, Filmstill © microFILM
„Allensworth“ von James Benning

Mit „Allensworth“ war auch dieses Jahr wieder ein Film des amerikanischen Filmemachers James Benning zu sehen. Der Film fügt sich formal beinah nahtlos in die vergangenen Arbeiten des Minimalisten: zwölf mal fünf Minuten zeigt Benning statische Aufnahmen aus dem amerikanischen Allensworth, die jeweils einem Kalendermonat zugeordnet werden. 1908 wurde die Stadt als erste von Afroamerikaner*innen verwaltete Gemeinde Kaliforniens gegründet; mittlerweile sind die noch vorhandenen Bauten Teil einer historischen Parks. Die besondere Geschichte von Allensworth erläutert Benning in seinem Werk nicht, bricht jedoch für eine Einstellung aus der strengen Komposition aus, die sonst ausschließlich die von der Zeit angenagten Holzhäuser der Gemeinde zeigt, die immer tiefer ins Bewusstsein der Zuschauer*innen eindringen. In einem leeren Klassenzimmer rezitiert dann plötzlich eine junge Schülerin ein Gedicht der afroamerikanischen Lyrikerin Lucille Clifton, während an anderer Stelle Nina Simone mit dem Lied „Blackbird“ erklingt: „'cause your mama's name was lonely and your daddy's name was pain“. Politisch-poetische Reflexion à la Benning.

James Benning: ALLENSWORTH, Sektion: Forum 2023, Filmstill © Courtesy of the artist and neugerriemschneider, Berlin