Parallel zur Ausstellung WALK!: Ein Soundtrack voller Musiker*innen, die bewusst eine langsamere Gangart anschlagen.

Born to Run: Die Popkultur als Fortschrittsmedium ist der permanenten Weiterentwicklung unterworfen und muss daher stets in Bewegung sein. Wobei das Schritttempo hier als rasant zu bezeichnen wäre – in den meisten Songs, Filmen und Videos wird gerannt, gehetzt und vorgeprescht oder gleich auf motorisierte Hilfsmittel zurückgegriffen, so als würde das Diktat der schnellen Mode mit seinem Motto „Höher, schneller, weiter“ auch inhaltlich wie formal den Takt angeben. Musik zu finden, die sich diesem Wettrennen entzieht und bewusst eine langsamere Gangart anschlägt und sich dem Mäandern, Flanieren und Umherschweifen widmet, ist fast noch schwieriger als in der bildenden Kunst, aber mindestens genauso spannend. Parallel zur Ausstellung WALK! hat sich das SCHIRN MAG auf den Weg gemacht und Musiker*innen gefunden, die sich bewusst so vermeintlich lahmen Dingen wie Gemächlichkeit, Entschleunigung und Innehalten zuwenden.

Der erste Schritt ist der wichtigste: Das dachte sich auch das New Yorker Elektronikprojekt LCD Soundystem als es 2006 für einen US-Sportartikelhersteller mit „45:33“ die Untermalung für eine Joggingrunde produzierte und stark auf den Sound der Düsseldorfer Ikonen Kraftwerk, selbst passionierte Radfahrer, zurückgriff. Im selben Jahr veröffentlichte die Berliner Band Jeans Team den Song „Das Zelt“, der als einer der ersten ein alternatives Lebensgefühl jenseits der urbanen Karriereszenarien seiner Zeit formulierte und den Aufbruch bzw.

Ausstieg zu Fuß als radikales Gegenprogramm zu den Trends der frühen Nuller-Jahre propagierte. Spotify-Hörer*innen dürfen sich hier auf die Coverversion des Hamburger Punk-Grandsenieurs Rocko Schamoni freuen. Helge Schneider schließlich, bei dem bereits im Schulalter Wandertrieb diagnostiziert wurde, treibt in seinem während des ersten Corona-Lockdowns aufgenommenen Hörspiels „Nordic Walking“ die damals grassierende Spaziermanie auf die Spitze. Einen Schritt weiter als dessen Protagonisten Erwin und Klaus ist die britische Band Broadcast mit ihrer Ode an das gemeinsame Gehen „Come on Let‘s Go“.

Der Ausbruch aus den geregelten, vorgegebenen Bahnen steht auch im Zentrum von „Across 110th Street“, einem Song, den Bobby Womack 1973 für den Blaxploitationfilm gleichen Namens schrieb. Die Hymne, die den Weg aus dem New Yorker Stadtteil Harlem in ein vermeintlich besseres Leben beschreibt, untermalt auch den Beginn von Quentin Tarantinos 1997er-Film „Jackie Brown“, den die Protagonistin passenderweise auf einem Laufband zurücklegt. Einen vermeintlich fröhlicheren Weg durch ihre Stadt beschreitet die Band Britta mit „Die traurigsten Menschen (von ganz Berlin)“.

Songschreiberin Christiane Rösinger folgt hier einer Gruppe Partygänger*innen vom Club durch die erwachende Haupstadt. Richtig traurig ist dagegen Jeanne Moreau in Louis Malles 1958er-Film „Fahrstuhl zum Schafott“: Ihr melancholischer Gang durch die Pariser Champs-Élysées wurde von Miles Davis kongenial auf dem Soundtrack vertont. Dagegen beschreibt Morrissey in seinem 1988er-Hit „Everyday is like Sunday“ bildhaft das gelangweilte Schlurfen eines Teenagers am Strand eines verschlafenen britischen Küstendorfes.

Der „Walk“ ist für die meisten englischsprachigen Songschschreiber*innen als der gewöhnliche Gang von A nach B. Meist beschreibt er auch die Transition von einem Zustand in den anderen oder den Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten. Lou Reed hat das 1972 in von den Superstars Andy Warhols geprägten Trans-Hymne „Walk on the Wild Side“ verführerisch in Musik übertragen; 20 Jahre später findet die Basslinie als Sample ihren Widerhall im urbanen Lebensgefühl von A Tribe Called Quests Hip Hop-Hymne „Can I Kick it?“.

Die Dekonstruktion eines Klassikers wie Dionne Warwicks „Walk on by“ hat sich About Group um Hot Chip-Sänger Alexis Taylor vorgenommen. Dagegen nähern sich Anita Lane und Barry Adamson fast schon ehrfürchtig „These Boots Are Made for Walking“, während sich dessen Originalinterpretin Nancy Sinatra einem anderen Evergreen des Gehens widmet: Fats Dominos „I‘m Walking“. Ein weiterer Popklassiker des anmutigen Gehtempos ist Antônio Carlos Jobims „The Girl from Ipanema“, der Astrud Gilberto 1963 einen Welthit bescherte. Der britische Trip Hop-Produzent Tricky zitiert die legendäre Melodie gut 50 Jahre später mit einer Anrufbeantworteraufnahme auf „Come to Me“.

Das Schicksal von Geflüchteten auf ihrem Weg weg von Krieg, Armut und Unterdrückung kann derzeit nicht aktueller sein und wird in der Popmusik doch nur selten angesprochen. Als eine der wenigen Acts hat sich die Hamburger Gruppe Die Goldenen Zitronen bereits 2006 mit dem Song „Wenn ich ein Turnschuh wär“ mit der Thematik auseinandergesetzt und passenderwesie 2015 noch einmal als „If I Was a Sneaker“ auf Englisch aufgenommen. Einen Siedlertrack im US-Goldrausch des 19. Jahrhunderts ist dagegen Thema von „Paint Your Wagon“, einer 1969er-Verfilmung des gleichnamigen Broadway Musicals von 1951 – die charakteirische Stimme des Songs „Wand‘rin Star“ stammt von Schauspieler Lee Marvin.

Die deutsche Agitprop-Band Ton Steine Scherben, die auch in der Ausstellung vertreten ist, steht als Vertreter*in einer Massen- und Protestbewegung, die in Form von Demonstrationen auf die Straße geht. Die Vereinzelung des isolierten Individuums, das Joy Divison in ihrem Song „Atmosphere“ herausbeschwören, wird dagegen von Regisseur Anton Corbijn in seinem Clip zu einer Prozession für den früh verstorbenen Sänger Ian Curtis übersetzt.

Wie aus bloßem Gehen eine rauschhafte, entgrenzende Erfahrung wird, zeigen hier eindrücklich die Bands Die Nerven mit „Barfuß durch die Scherben“ und Tocotronic mit „Auf dem Pfad der Dämmerung“. Aretha Franklin holte das bereits 1945 für ein Musical komponierte „You‘ll Never Walk Alone" raus aus den Fußballstadien - und hinein in eine Baptistenkirche in Los Angeles, wo sie 1972 mit einem Gospelchor ihr Album „Amazing Grace“ live aufnahm. Das Auf und Ab des Lebensweges thematisiert auch der Song „Stillness is the Move“, der auf Spotify von den Dirty Projectors bzw. in einer Coverversion von Solange Knowles zu hören ist. Das jeder Gang am Ende des Tages doch nachhause geht, zeigt die Hamburger Band Blumfeld, die ein Cover des „Abendlieds“ von Hanns Dieter Hüsch bewusst ans Ende ihres 2001er-Albums „Testament der Angst“ setzten.

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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