Wie bloße Hüllen, denen ihr eigentlicher Zweck abhanden gekommen ist, begegnen uns die Körper in Aernout Miks Videos. Befreit von allen abstrakten Zielen werden sie als Negation sozialer und politischer Machtstrukturen neu sichtbar.
Der Soldat, so stellte Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820) fest, ist das personifizierte „Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates“. In der Person des Soldaten vereinen sich demnach das egoistische Interesse nach persönlicher Sicherheit und Besitzstandswahrung des Individuums mit den Belangen des altruistischen, abstrakten Staatsbürgers. Diese Vereinigung von Individuum und Staatsbürger erfolgt allerdings in negativer Weise, die dem Soldaten einerseits das Töten erlaubt und ihm andererseits schließlich den eigenen Tod bringt – jeweils für ein abstraktes Ziel, das nicht immer unmittelbar den individuellen Soldaten selbst betrifft.
entkleidete Staatsmacht
Ähnliches ließe sich auch über Mitglieder eines Sondereinsatzkommandos sagen, wie man sie in Aernout Miks „Double Bind“ (2018) zu sehen bekommt. In ihrem martialischen Aussehen blitzt die gewaltbereite Souveränität der Staatsmacht hervor, für die die Einsatzkräfte der Kommandos die Träger darstellen.
In der 3-Kanal-Videoarbeit schleichen in dokumentarisch anmutenden Szenen Spezialeinheiten zielgerichtet und schwer bewaffnet, ganz so wie man es aus dem Fernsehen kennt, durch eine französische Innenstadt und Vororte, offenbar bereit, das zu opfern, was der Staat eigentlich schützen soll: das (eigene) Leben. Doch dazu kommt es nicht, verharren die Einsatzkräfte doch in den langen Einstellungen in angespannter Pose, ohne weiter aktiv zu werden. Der abstrakte Zweck ihrer Mission scheint sie verlassen zu haben, zurück bleiben nur leere Körperhüllen, die offenbar von der Schwerkraft auf den Boden gedrückt werden und später wie organische Zellstrukturen auf der Erde herumkriechen, bis sie sich schließlich grotesken Verrenkungen hingeben.
zurück bleiben leere charaktermasken
Auch in der Videoarbeit „Threshold Barriers“ (2022), die Aernout Mik speziell für die Schirn konzipiert hat, ist die Staatsmacht in schwerer Montur zu sehen. Hier steht sie einer Gruppe von Protestierenden gegenüber, aber auch in diesen Szenen sind weder Demonstrationen noch das Eingreifen des Souveräns zu sehen. Die beiden Gruppen schlängeln sich stattdessen zwischen ineinander verkeilten Absperrgittern und manchmal hindurch oder obendrüber, sitzen lachend in Gesprächskreisen oder schauen mal angespannt, mal heiter in der Gegend herum. Zurück bleiben auch hier nur leere Charaktermasken, deren Habitus sich nach und nach verflüchtigt. Die angespannte Stimmung, die das Szenario anfänglich noch transportiert, kippt so immer wieder ins Groteske, derweil auch die Einsatzkräfte nach und nach aus ihrer schweren Schutzkleidung befreit werden.
Körper neu beseelt
Scheinen die Körper in den beiden in der Schirn präsentierten Arbeiten „Double Bind“ und „Threshold Barrier“ wie von ihrem Zweck befreite Gefäße, die über sich selbst erst noch die Kontrolle gewinnen müssen, so werden jene in „Speaking in Tongues“ (2013) hingegen beseelt von übernatürlichen Zuständen. In der Arbeit kombiniert der niederländische Künstler dokumentarische Aufnahmen aus evangelisch-freikirchlichen Mega-Churches in Rio de Janeiro, Belo Horizonte oder Lagos mit inszenierten Szenen, in der über 200 Statist*innen mitwirkten. Der Titel bezieht sich auf die pfingstliche Geistestaufe im Neuen Testament der Bibel, demnach der Heilige Geist die Gläubigen erfüllte und sie darauf in fremden Sprachen beteten. Der religiösen Ekstase setzt der Künstler die selbstgedrehten Aufnahmen entgegen, die an Business-Motivationstrainings erinnern und den Teilnehmenden offenbar ähnlich vitalisierende Geisteszustände bescheren. „Mich interessiert vor allem die Parallelität zwischen der geschäftlichen und der sakralen Welt“, erklärt Mik, und rekurriert dabei auf die Lehre vom Wohlstandsevangelium, nach der derjenige, der ein gottgefälliges Leben führt, mit Reichtum und Anerkennung beschenkt wird.
desorientiert im einsatzraum
Immer wieder macht sich Aernout Mik die Architektur des Ausstellungsraumes zu Nutze, um die Betrachter*innen auch mittels räumlicher Erfahrung in das Geschehen zu ziehen. In „Organic Escalator“ (2000) formen Körper eine wabernde, symbiotische Masse, die panisch versucht, über eine Rolltreppe einem Erdbeben zu entkommen. Während die Menschen jedoch keinen Zentimeter vorankommen, ändert der mobile Raum seine Dimensionen und zieht die Zuschauer*innen immer weiter ins Geschehen hinein. Für die große Werkschau „Communitas“ konzipierte der Künstler eine aufwendige Ausstellungsarchitektur aus Gängen und Abzweigungen, die nicht nur die einzelnen Arbeiten räumlich voneinander trennten, sondern auch Gefühle der Desorientierung bei den Museumsbesucher*innen hervorriefen.
Und auch in der aktuellen Schirn-Ausstellung evoziert die Ausstellungsarchitektur eine Art Kontrollverlust bei den Betrachter*innen, wenngleich weniger unmittelbar: Zwischen insgesamt fünf Leinwänden befindet man sich genau in der Mitte, wie in einem zentralen Einsatzraum, von dem aus im Normalfall eigentlich die Ereignisse gesteuert werden. Während der Ton, auf den der Künstler in der Regel verzichtet, hier mit körpernahen Klängen vom Ächzen und Schmatzen der Protagonist*innen umso näher ins Geschehen hineinzieht, bleibt den Zuschauer*innen jedoch jeder Zugriff auf das Gesehene verwehrt. Sie werden zurückgeworfen in den Ausstellungsraum und auf ihre eigenen Körper, in denen das nervöse Nichtstun je nach Gefühlslage und Zeitpunkt der gezeigten Choreografie mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Reaktion hervorruft, sei es ein Lachen, Ungläubigkeit oder auch Anspannung. Der gewaltbereite Souverän, von dem Hegel schreibt, schreitet nicht zur Aktion - in jedem Fall nicht zu einer, die man von ihm erwarten würde. Er verharrt in einem Limbus, einer Zwischenwelt der abweichenden, verwirrenden Handlungen, dessen Bilder noch lange nachhallen.