Als Gilbert & George 1969 zum ersten Mal zur „Singing Sculpture“ wurden, fiel das auf fruchtbaren Boden: Bereits in den Jahren zuvor hatte eine Gruppe Künstler die Definition von Skulptur radikal hinterfragt.

Es war ein Jahrzehnt, das schon während seiner Laufzeit zu einer Legende wurde: Die „Swinging Sixties“ verwandelten England und insbesondere die Hauptstadt London von der grauen Nachkriegszeit in eine flirrende und schillernde Metropole für Musik, Mode und Kunst. Die Röcke wurden immer kürzer, Farbkombinationen und Musik psychedelischer, die Parties mit bewusstseinserweiternden Drogen aufgepeppt. Aus den USA schwappte die Pop Art auf die Insel, brachte frischen Wind in die institutionalisierte Kunstwelt und die Künstler*innen begannen mit neuen Formen zu experimentieren.

Zu ihnen gehörte auch Anthony Caro, der nach drei Jahren als Mitarbeiter von Henry Moore bereits seit 1953 an der St. Martin’s School of Art in London Bildhauerei unterrichtete. Er ermutigte seine Student*innen, mit den Konventionen zu brechen: Müssen Skulpturen zwingend aus Bronze oder Stein bestehen oder können es auch andere Materialien sein? „Wir begannen damit, zu überdenken, was Skulptur sein kann“, sagte Caro in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod rückblickend und fügte hinzu: „Ich glaube, wir haben den Skulpturenbegriff aufgebrochen. Wir haben ihn freigelassen.“

Zuvor, so Caro, sei Bildhauerei in Großbritannien eine sehr traditionelle Kunst gewesen, die eher an das uralte Handwerk der Steinmetzerei erinnert habe. Inspiriert von den Abstrakten Malern, die er auf einer Reise in die USA kennengelernt hatte, ging es ihm nun darum auszuprobieren, wie weit man den Begriff der Skulptur ausreizen kann und wo die Grenzen liegen. 1963 zeigte er in einer Ausstellung in der Londoner Whitechapel Gallery zum ersten Mal großformatige, in satten Farben angemalte Stahlskulpturen, die unter Studenten anderer Kunsthochschulen sowie den Kunstkritikern für Furore sorgte – unter anderem, weil Caro bewusst darauf verzichtete, seine Arbeiten auf einen Sockel zu stellen.

Ich glaube, wir haben den Skulp­tu­ren­be­griff aufge­bro­chen. Wir haben ihn frei­ge­las­sen.

Anthony Caro

Anthony Caro, The Window, 1966/67, Courtesy of Barford Sculptures Ltd, Image via www.tate.org.uk

Unter seiner Leitung entwickelte sich daraufhin an der St. Martin’s School eine Gruppe, die später als „New Generation Sculpture“ bekannt wurde. Anstatt mit Stein und Meißel arbeiteten die Studenten mit Stahl und Röhren, Blech, Plastik und Kunststoffen. Kunst hatte für die „New Generation“ nicht mehr die Aufgabe, Status zu repräsentieren, wie es ein Gemälde oder eine Büste tat; sie sollte die Betrachter nicht außen vor lassen, sondern miteinbeziehen. Auch sie brachten Farbe ins Spiel: William Tucker, Michael Bolus und Philipp King entwarfen Skulpturen in Pastellfarben, die wie überdimensionale Papierschnipsel wirken, während sich in den Arbeiten von David Annesley die zu dieser Zeit  in der Malerei prominente Op-Art mit ihren vielfältigen geometrischen Formen und den satten Gelb-, Grün- und Blautönen widerspiegelt.

Kann Kunst atmen?

Doch der wiederum nächsten Generation von Künstlern, wozu neben Barry Flanagan auch Richard Long und Gilbert & George gehörten, ging selbst diese Ausdehnung des Skulpturenbegriffs nicht weit genug. „Im St Martins College of Art war es üblich, dass man jeden Monat seine Skulpturen präsentierte. Studentinnen und Studenten diskutierten dann mit den Dozenten vor den Werken, und zwar in einer Sprache, die niemand außerhalb der Akademie verstehen konnte“, erzählten Gilbert & George in ihrem Interview mit Hans Ulrich Obrist. Sie wollten sich von dem Formalismus lösen, der in ihren Augen dominierte und bewirkte, dass sich alle nur auf die äußere Form einer bildhauerischen Arbeit konzentrierten, sich aber niemand mit dem Inhalt auseinandersetzte. Wo fängt Kunst überhaupt an, wo endet sie? Kann Kunst atmen? 

Michael Bolus, Nenuphar, 1963 © Tate, Image via www.tate.org.uk

Gilbert the Cunt and George the Shit, Magazine Sculpture, 1969, © Gilbert & George, Image via spikeartmagazine.com

Also gingen sie noch einen Schritt weiter – und wurden selbst zur Skulptur. 1969 präsentierten sie zum ersten Mal ihre „Singing Sculpture“: Gekleidet in die mittlerweile zum Markenzeichen gewordenen Tweed-Anzüge und mit silbern angemalten Gesichtern stehen sie auf einem Tisch und singen, an Figuren aus einer Spieluhr erinnernd und von einem Kassettenrekorder begleitet, das Lied „Underneath the Arches“ aus dem Jahr 1932. Eine Aufführung, die den damaligen Leiter des Fachbereichs Bildhauerei an der Kunstschule dazu brachte, verärgert den Raum zu verlassen. 

Die Skulptur wurde aus ihrem elitä­ren Dasein geholt

Gilbert & George jedoch ließen sich nicht beirren und schufen über die Jahre nicht nur weitere „Singing Sculptures“, sondern auch „Magazine Sculptures“, „Dancing Sculptures“, „Meal Sculptures“, „Café Sculptures“, „Walking Sculptures“ und „Postal Sculptures“. Eine Grenze zwischen Skulptur und Bildhauer, zwischen Kunst und Privatleben ziehen sie schon lange nicht mehr. Die Sechziger Jahre waren nicht nur das Jahrzehnt, in der Popkultur sich auf alle Bereiche des Lebens auszubreiten begann; es war auch die Zeit, in der die Bildende Kunst dank Anthony Caro und seiner „New Generation Sculpture“ aus ihrem verstaubten und elitären Dasein geholt wurde – und so den Nährboden bereitete für außergewöhnliche Künstler wie Gilbert & George.

Gilbert & George. The Easter Cards. 1969. Postal Sculpture, The Museum of Modern Art Library, New York. Franklin Furnace Collection. © 2015 Gilbert & George, Image via www.moma.org

Gilbert & George. The Great Exhibition

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