Wie sich die tech­no­lo­gi­schen, media­len und ökono­mi­schen Bedin­gun­gen der Musikindustrie verän­der­t haben, zeigt sich besonders in Musikvideos. Doch was wenn die Videos selbst Kunstwerke sind?

Es gibt zwei Songs von James Murphys Projekt LCD Soundsystem, die den Titel „Someone Great“ tragen. Der eine ist im Jahr 2007 auf dem Album Sound of Silver erschienen, rund sechseinhalb Minuten lang und handelt davon, wie Murphy vom Tod seines Therapeuten erfährt und wie sich die Trauerarbeit gestaltet. Der andere ist knapp vier Minuten lang. Es handelt sich um den Single-Edit des Tracks, der für Airplay im Radio oder im Musikfernsehen gekürzt wurde.

Das dazugehörige Video von Doug Aitken spielt mit einer Doppelbedeutung: Aus dem Therapeuten wird die eingeschwärzte Silhouette einer Frau, die durch das hitzesommerliche New York spaziert. Sie geht in einen Plattenladen, trifft sich mit Menschen auf einer Dachparty und umarmt erst jemanden, bevor sie die Feier zu verlassen scheint und die Kamera in die Schwärze ihres Umrisses herein zoomt. Fin.

Seinen Anfang aber nimmt das Video im Bett: Die Silhouette hat Sex mit einem Mann, der, während sie sich anzieht und die Wohnung verlässt, ziemlich deprimiert dreinschaut: „someone great“ verlässt ihn gerade, so scheint es. Es fällt also recht leicht, das Video und somit auch den Song als die Geschichte einer Trennung zu verstehen. Das Miteinander von Musik und Lyrics auf der einen und Aitkens Video auf der anderen Seite schafft eine Ambivalenz. Das Thema des Verlassenwordenseins lässt sich aber auf zwei Arten lesen – schließlich ist es genauso möglich, in der schwarzen Silhouette eine Verstorbene zu sehen, die in den Erinnerungen ihres Liebhabers, ihres Plattendealers und ihrer Freund*innen einen letzten Auftritt hat. Der Künstler Aitken hat so aus dem ursprünglichen Werk ein neues erschaffen, indem er ihm zusätzliche Bedeutung verliehen hat.

„Someone Great“ erschien im Oktober 2007 als Enhanced-CD-Single, auf der das Video ebenfalls enthalten war. Es ist somit gleichzeitig Teil eines Warenbündels, das ein wiederum anderes Produkt bewerben soll, das Album „Sound of Silver“. Aitkens ästhetische Auseinandersetzung mit dem Song und seinem Thema ist dementsprechend auch ein Ausdruck der medialen und ökonomischen Bedingungen seiner Zeit: Sie ist noch der Logik des Fernsehzeitalters und dem Absatz von Musik in der Warenform des Tonträgers oder Downloads untergeordnet. YouTube war im Jahr 2007 kaum zweieinhalb Jahre alt und noch lange nicht so populär wie heute. Hochgeladen wurde Aitkens Video auch erst am 12. März 2009. Ein Jahr zuvor hatte die Plattform ein Monetarisierungssystem eingeführt – Musikvideos selbst hochzuladen erlaubte Musiker*innen und Labels ab da an zumindest einen bescheidenen Profit aus dem Format zu schlagen.

Wie YouTube das Fernsehzeitalter ablöste

Wie sich die technologischen, medialen und ökonomischen Bedingungen in nur wenigen Jahren veränderten und sich so auch auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Musik und Lyrics eines Songs auswirkten, das zeigt sich an „Where Are We Now?“, einer Videoarbeit vom Künstler Tony Oursler zu David Bowies gleichnamigen Song. Anders als „Someone Great“ wird sie direkt am Veröffentlichungstag – der 8. Januar 2013, Bowies 66. Geburtstag – auf YouTube hochgeladen und auf seiner Website eingebettet. Der Veröffentlichung, Bowies erster seit zehn Jahren, ging vorab keine Pressemitteilungen oder eine Promo-Kampagne voraus. Oder besser gesagt war die Überraschungsveröffentlichung die eigentlich PR-Aktion. Ourslers Video ist minimalistisch gestaltet und arbeitet mit Aufnahmen einer in der Hand gehaltenen Kamera aus einem schummrig beleuchteten Kunstatelier sowie Archivmaterial aus dem Westberlin der siebziger Jahre, das Bowie im Song besingt.

Wie bei „Someone Great“ drückt sich darin eine Melancholie aus, das Gefühl, etwas unwiederbringlich verloren zu haben. Anders als Aitken macht Oursler den Sänger zum Protagonisten: Bowies Gesicht wird auf den Kopf einer von zwei Puppen projiziert, von denen die andere das Antlitz von Ourslers Ehefrau Jacqueline Humphries zeigt. Während Humphries angestrengt zu lauschen scheint, singt das schwebende Gesicht Bowies den Song. Im Hintergrund sind auf einer Projektionsfläche die Archivaufnahmen zu sehen, die Lyrics werden im Vordergrund eingeblendet.

Die Darstellung der beiden Figuren als „face in a hole“, wie Oursler es nennt, verweist auf die Aufsteller in Vergnügungsparks und Attraktionen für Tourist*innen, die vor allem der spielerischen fotografischen Dokumentationdienen – also der Konservierung von Erinnerungen. So stellt sich die Videoarbeit des Künstlers noch deutlicher in den Dienst des eigentlichen Songs, indem es sein Thema visualisiert und durch die den Gesang begleitenden Einblendungen des Songtextes diesen nachvollziehbar macht.

Eine Szene aus dem Musikvideo zu "Where are we now?" von 2013 © Screenshot Youtube, Image via www.zeit.de

„Where Are We Now?“ ordnet sich damit anders als „Someone Great“ der Fetischfigur des Popstars und dessen persönlichen Gefühlslebens, genauso aber der Logik einer neuen Ökonomie des zu dem Zeitpunkt bereits angebrochenen YouTube-Zeitalters unter. Denn wie die Beigabe von Lyrics für Fans bereits einen Anreiz leistete, sich das Video wiederholt anzuschauen und somit zusätzliche Einnahmen durch YouTube versprach, so taten es auch kleine, geschickt eingebettete Details, die auf die Privatmythologie der Figur David Bowie  und ihrer Zeit in Westberlin verweisen.

Es eröffnet sich ein breiter Referenzrahmen, der Fans und Presse nach der Veröffentlichung zu eifrigen Diskussionen über diese Bezüge anstieß. Das Video bewarb demnach den Song genauso wie sich selbst. Inwiefern dies von Oursler intendiert war, mag eine andere Frage sein. Jedoch machte das Prinzip in den Folgejahren immer mehr Schule. Es erreichte seinen vorläufigen Höhepunkt mit Hiro Murais Musikvideo für Childish Gambinos Song „This Is America“ aus dem Jahr 2018: Die hohe Schlagdichte von historischen und kulturellen Referenzen stieß eine breite Diskussion um diese an, und die Schnitzeljagd nach der Aufdeckung dieses oder jenen Bezugs führte dazu, dass das Video immer häufiger abgespielt wurde.

Im Medienwandel definierte sich das Musikvideo so immer mehr als ständig neu ansteuerbare digitale Ware, dessen ästhetische Gestaltung maßgeblich zu deren (Wiederabspiel-)Wert beiträgt. Wobei sich die Frage stellt, inwiefern eine künstlerische Intention wie Aitkens Umdeutung des Ausgangsmaterials sich dieser Logik überhaupt entziehen kann.

Das Musik­vi­deo definiert sich als digi­tale Ware

Es ist ein Problem, das auch Arthur Jafas Arbeit zu Kanye Wests Song „Wash Us in the Blood“ prägt. Das am 30. Juni 2020 veröffentlichte Video collagiert wacklige Smartphone-Aufnahmen vom aggressiven Gebaren der Polizei während der Black-Lives-Matter-Demonstrationen mit einem 3D-Rendering von Wests Gesicht und Aufnahmen von Schwarzen Menschen in verschiedenen Situationen: Beim Tanzen und Singen, bei Schlägereien, Ausschreitungen, in Videospielen, im Krankenhaus. Die tagesaktuellen visuellen Referenzen auf rassistisch motivierte Polizeigewalt orientieren sich weitgehend am Text – „Genocide, what it does / Slavery, what it does“ – und eröffnen auf bildlich-thematischer Ebene einen Dualismus zwischen der Fetischisierung Schwarzer Kultur und der tatsächlichen Gewalt gegen Schwarze Menschen in den USA.

Arthur Jafa Kanye West, “Wash Us In The Blood”, 2020 Courtesy of Kanye West, Arthur Jafa, and Gladstone Gallery, New York and Brussels

Das streckenweise im Splitscreen-Format verschiedene Bilder neben- und gegeneinander stellende Video Jafas ist von einer ähnlichen Mehrdeutigkeit geprägt wie Aitkens Interpretation von „Someone Great“ und doch genauso referenzreich und von der Ikonizität des Rappers geprägt wie Ourslers „Where Are We Now?“. Es ist ein postmodernes Kunstwerk, gleichermaßen Ausdruck von wie Kommentar auf die mediale Reizüberflutung seiner Zeit.

Somit reiht es sich jedoch unversehens in dieselbe Logik ein, die von „Where Are We Now?“ oder Videos wie „This Is America“ ausdefiniert wurde. Denn es konnte sich seine ästhetische Gestaltung nicht den ökonomischen Sachzwängen des YouTube-Zeitalters entziehen: Wegen seiner teils grafischen Inhalte wurde es von der Plattform mit einer Altersbeschränkung belegt. In den Kommentaren zweifeln User*innen die angezeigten Aufrufzahlen des Videos – nur etwas mehr als 11,3 Millionen sind es ein Jahr nach seiner Erstveröffentlichung – an. 

„[S]o we have proof the video was at 14 million, then it got age restricted, the views magically jumped to 10 million, and now theyve stayed at this exact amount since 6 months ago. the industry has a personal vendetta against this man and its disgusting”, schreibt ein User im März 2021. Die Rezeption der Videokunst wird von deren quantifizierbarem Warencharakter vollständig überlagert.

Als Musikvideos Anfang der achtziger Jahre mit dem Erfolg des Musikfernsehens ubiquitär wurden, handelte es sich in erster Linie noch um Kunst, die ein anderes Produkt als sie selbst bewarb: die Musik, die von ihr visualisiert, kommentiert und/oder interpretiert wurde. Spätestens mit dem Aufkommen von VHS-Veröffentlichungen und schließlich der Enhanced-CD wird sie allerdings selbst zur Ware, die sich im digitalen Umfeld schließlich selbst bewirbt. Es ist ein Prozess, der sich zwangsläufig in der ästhetischen Gestaltung dieser von ansonsten außerhalb der Musikindustrie agierenden Regisseure wie Oursler und Jafa niederschlägt oder massiv die Rezeption ihrer Werke beeinflusst: Ihre Ästhetik wird untrennbar der Verwertbarkeit unterstellt.

so we have proof the video was at 14 million, then it got age restric­ted, the views magi­cally jumped to 10 million, and now theyve stayed at this exact amount since 6 months ago. the indus­try has a perso­nal vendetta against this man and its disgus­ting.

Kommentar von „user name“ auf YouTube
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9. bis 11. Juli 2021, GIBSON, HAFEN 2, LOLA MONTEZ, NACHT­LE­BEN, ROBERT JOHN­SON, SILB­ER­GOLD, TANZ­HAUS WEST und YACHT­KLUB

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