In ihrer Kunst schuf Leonor Fini eine neue Gesellschaftsordnung, bevölkert von Sphinxen und kämpferischen Heldinnen. Und ließ sich dabei von zahlreichen historischen Vorbildern inspirieren.

Der New Yorker Galerist Julien Levy hat Leonor Fini (1907–1996) einmal so beschrieben: „(...) keine schöne Frau; ihre Körperteile passten nicht so recht zusammen: der Kopf einer Löwin, der Verstand eines Mannes, die Brust einer Frau, der Rumpf eines Kindes, die Anmut eines Engels und eine Zunge wie der Teufel ... Ihre Faszination lag in der Fähigkeit, so über diese unstimmigen Körperteile zu verfügen, dass sie sich zu jeglicher Form arrangierten, die ihre Fantasie ihr von einem Augenblick auf den nächsten eingab“.

Während Levys Worte einerseits die entscheidende Rolle verdeutlichen, die er bei der Vermittlung eines neuen surrealistischen „Typus“ an das amerikanische Publikum der 1930er- und 1940er-Jahre spielte, erwecken sie andererseits das Frauenbild innerhalb dieser Typologie: Stets wurde sie als exotisch-animalische Femme fatale wahrgenommen. Ob Modell, Muse oder Künstlerin, man erwartete von ihr, dass sie das Wesen des Surrealismus verkörperte – die Fantasie. Bald aber lenkten die Surrealistinnen den genderspezifischen Blick auf die Imagination um, fanden ihren eigenen unabhängigen Ausdruck und entwickelten eine neue Bildsprache, die ihrer Vorstellung von der modernen, sexuell befreiten Frau entsprach.

Die Surrealistinnen entwickelten eine neue, befreite Bildsprache

Fini wurde als Tochter italienisch-slawischer Eltern in Buenos Aires geboren und wuchs in Triest im Umfeld von James Joyce und Rainer Maria Rilke auf. Zur Entwicklung eines eigenen künslerischen Stiles, einer unverkennbaren Bildsprache, ließ sie sich von zahlreichen historischen Vorbildern und einer Vielzahl von Künstlern inspirieren – von Hieronymus Bosch und dem italienischen Manieristen Agnolo Bronzino ebenso wie von Gustav Klimt, Egon Schiele und Giorgio de Chirico. 

Leonor Fini, Le Bout du monde (Das Ende der Welt), 1949 © Galerie Minsky, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

1931 siedelte sie der surrealistischen Kunst wegen nach Paris über und stellte dort erfreut fest, dass sie sich in den Schriften Sigmund Freuds, Franz Kafkas und Friedrich Nietzsches besser auskannte als viele weitere Künstler der Surrealistengruppe. Durch die Vereinigung vielfältiger Einflüsse in ihren minutiös gesetzten Pinselstrichen, satten Farbigkeit und feinen Oberflächenstrukturen, durch ihr Interesse an Psychoanalyse, Philosophie, Mythologie und Zauberei, sowie Finis Fokus auf die Frau als sinnlich-sexuelles Wesen, das oft auch in Gestalt einer grausamen Domina oder eines Raubtiers auftritt, lenkte sie den Surrealismus in eine neue Richtung. 

Finis Frauendarstellungen lenkten den Surrealismus in eine neue Richtung

In Finis Frühwerk „Die Neugierige“ (1936), das für ihre erste Ausstellung in der Julien Levy Gallery in New York entstand, beobachtet ein älterer Mann durch ein Schlüsselloch eine groß gewachsene Frau in einem präraffaelitischen Kleid, mit Reitgerte in der Hand. Die Tür lässt die Szene zwischen Traum und Alptraum oszillieren, während wir in ein erotisches Drama einbezogen und dabei selbst zur Voyeurin oder zum Voyeur werden. Diese Dynamik dominierte anschließend sämtliche Gemälde der Künstlerin, die in obsessiver Weise das Bild der Femme fatale immer wieder aufgreifen und Frauen – einschließlich ihrer Freundinnen und sich selbst – mit Löwenmähne, Fin-du-Siècle-Gewändern und kühnem Medusenblick porträtieren. In „Die Hirtin der Sphinxe“ (1941) erscheint derselbe Frauentypus inmitten eines Harems von Sphinxen in einer gleichfalls öden Landschaft. Diesmal aber trägt die Frau einen nur knapp bedeckenden Panzer aus Metall, der dazu dient, den Blick auf ihr Geschlecht und den phallischen Stab in ihrer Hand zu lenken.

Leonor Fini, Autoportrait (Selbstporträt), 1941 © Weinstein Gallery, San Francisco / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Männliche Surrealisten griffen häufig Themen der griechischen Mythologie auf, beliebt war vor allem die Geschichte von Ödipus, und so ist es nicht überraschend, dass Fini die dort erwähnte Sphinx wiederholt abgebildet hat. Ihre Darstellung unterscheidet sich allerdings von der vieler ihrer männlichen Kollegen insofern, als Finis Sphinx allmächtig erscheint und der ödipale Mann als ein nach Lust und Laune zu benutzendes Spielzeug. Diese Konstellation zeigen einige ihrer berühmtesten Werke, etwa „Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht“ (1946) oder „Das Ende der Welt“ (1949), wo die Sphinx umgeben von Schädeln in Erscheinung tritt. 

In diesen Gemälden kehrt Fini traditionelle Rollenbilder faktisch um und zeigt die Frau als heroische Figur und den Mann als schönen, passiven Akt (der ihrem Geliebten, dem italienischen Graf Sforzino Sforza nachempfunden ist). Die männlichen Akte in ihren Bildern seien oft schlafend dargestellt, erklärte die Künstlerin, weil „Männer durch die Verpflichtungen von Arbeit, Gesellschaftsleben und Krieg unempfänglich sind für ein Leben des Geistes“. Die Sphinx beherrscht die während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Gemälde Finis, erlaubt ihr eine Umkehrung herkömmlicher Geschlechterbilder und die Kritik an einer Gesellschaft, in der von Männern Aggressivität und von Frauen Passivität erwartet wird. 

[weil] Männer durch die Verpflichtungen von Arbeit, Gesellschaftsleben und Krieg unempfänglich sind für ein Leben des Geistes.

Leonor Fini
Leonor Fini, Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht, 1946 © Weinstein Gallery, San Francisco and Francis Naumann Gallery, New York / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Als ein Wesen, das halb Frau, halb Löwin ist, versinnbildlicht die Sphinx eine Vereinigung männlicher und weiblicher Merkmale, von Animus und Anima und die Vision einer weniger aggressiven Gesellschaftsordnung. Tatsächlich sah Fini in ihr die perfekte Verschmelzung beider Geschlechter und identifizierte sich auch deshalb mit der Sphinx, weil sie sich selbst als „Zwitterwesen“ empfand.

Fini sah in der Sphinx die perfekte Verschmel­zung beider Geschlech­ter

So porträtierte sie sich etwa in Bildern wie „Im Turm“ (1952) in der Art einer Sphinx, die einen männlichen Akt durch eine verfallene Architekturumgebung führt. Durch die Farbe Rot als Symbol für den alchemistischen Weg wird angedeutet, dass den Mann so etwas wie eine Einführung in dem steinernen Turm erwartet. Das Bild entstand, als sich Fini und ihre beiden Liebhaber, Stanislao Lèpri und Konstanty (Kot) Jeleński, in Torre San Lorenzo in Italien aufhielten. Und tatsächlich ähnelt der schlanke, im Bild dargestellte Mann dem dreißigjährigen Jeleński, während in seiner Initiatorin die Künstlerin selbst zu erkennen ist. In den 1950er-Jahren wandte sich Fini zunehmend Themen wie Zauberei und Tod zu, malte priesterinnenartige Frauenfiguren in roten oder goldenen Roben, etwa in „Die Wächterin mit dem roten Ei“ (1955) und „Das Opfer ist die Königin“ (1963). Das Symbol des Eis und die flammenähnlichen Farben verweisen auf die alchemistische Kraft der Verwandlung und ordnen sie dem Weiblichen zu. 

Leonor Fini, Dans la Tour (Im Turm), 1952, © Weinstein Gallery, San Francisco and Francis Naumann Gallery, New York / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Indem Fini die Macht über Leben und Tod der Frau zuweist, setzt sie die Frau einmal mehr mit Tugend, Mutterschaft oder Gehorsam gleich. Sie bewunderte auch die Schriften des Marquis de Sade und schuf 1944 insgesamt 22 Radierungen für eine Prachtausgabe von de Sades Roman „Juliette“, der 1797 erstmals im Vatikan gedruckt worden war, wie sie in mehreren Interviews amüsiert erzählte.

Ihre Werke propa­gie­ren einen neuen, frei­zü­gi­gen Frau­en­ty­pus

Viele ihrer Werke sind geprägt von einer „Philosophie des Boudoirs“ de Sades und propagieren einen neuen, freizügigen Frauentypus, welcher der wilden Juliette nicht unähnlich ist. Ob Fini die Frau als hybride Göttin, Medusa, Freigeist oder weise Sphinx inszeniert – all ihre kriegerischen Heldinnen bestimmen über Leben und Tod. Diese „neuen Frauen“ gehen über das sonst übliche hierarchische Verhältnis von Meister und Muse hinaus und schwelgen in der Macht des Begehrens und der Fantasie. In ihrer Kunst plädierte Leonor Fini für das, was sie „eine Welt der nicht oder kaum voneinander differenzierten Geschlechter“ nannte, und übertrug die Vision eines von Frauen regierten Universums auf den Surrealismus.

Leonor Fini, La Victime est la reine (Das Opfer ist die Königin), 1963 © Weinstein Gallery, San Francisco / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

FANTASTISCHE FRAUEN

SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO

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