Hannah Ryggen lebte in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof an der norwegischen Küste und versorgte sich mit ihrer Familie selbst. Auch als Künstlerin war sie autark und schuf ihre Materialien selbst.

Wann ist eigentlich Tomatenernte in Deutschland? Und wo wachsen überhaupt Kiwis? Viele wissen heute nicht, welche Produkte wann Saison haben oder ob sie überhaupt in der Region gedeihen. Doch aktuell gewinnen die Schlagwörter »regional und saisonal« wieder an Bedeutung.

Die norwegische Künstlerin Hannah Ryggen wuchs inmitten des Wandels von der Agrar- zur Industriegesellschaft auf. Gemeinsam mit ihrem Mann, Hans Ryggen, aufgewachsen in einer Familie von Kleinbauern, lebte sie später in einfachen Verhältnissen auf einem Grundstück in der Küstenregion Ørlandet, nordwestlich von Trondheim. Auf ihren etwa fünf Hektar Landfläche bauten sie ihr eigenes Gemüse und Obst an und hielten Tiere, wie Gänse, Schafe und Hühner.

Hannah Ryggen kannte die Mühen der Landwirtschaft, die Nähe zur Natur war ihr ein hohes Gut. Die Idee der Selbstversorgung war ihre Lebensphilosophie: „Jeder Mann und jede Frau, zu welchen Ehren sie es auch immer gebracht haben mögen, sollte zu zwei Dingen erzogen worden sein: in der Lage zu sein, sein Essen herzustellen und sich selbst zu versorgen. Es ist unwürdig, wenn einer Diener eines anderen ist. Alle sollen arbeiten, keiner soll über dem anderen stehen.“ Hannah Ryggen selbst lebte diese Haltung und versorgte sich mit ihrer Familie selbst. 

Es ist unwürdig, wenn einer Diener eines anderen ist. Alle sollen arbeiten, keiner soll über dem anderen stehen.

Hannah Ryggen
Hans Ryggen malend im Garten, Hannah und Mona im Vordergrund, undatiert (1920er), Collection of NTNU University Library, Trondheim
Hannah Ryggen, Vi og våre dyr (Wir und unsere Tiere), 1934 © VG Bild-Kunst, Bonn 2019

In ihrem Werk „Wir und unsere Tiere“ zeigt Ryggen die Familie an einer langen Tafel, umgeben von den Tieren auf ihrem Hof. Sie werden hier gefüttert und gepflegt und doch dienen sie letztendlich als Nahrungsmittel. Ryggen thematisiert diesen Zwiespalt im Mittelteil des Teppichs, auf dem eine geköpfte Gans vor dem Mittagstisch entlangläuft und die Frau versucht, davor die Augen zu verschließen.

Ryggen färbte die Wolle selbst und gewann ihre Färbe­mit­tel aus der Natur

Die enge Verbindung zur Natur wirkte sich bei Ryggen jedoch nicht nur in ihrem Privatleben und in ihrem Verhältnis zu Nahrungsmitteln aus, sondern auch in ihrer Kunst. Die von ihr verwendete Wolle und die Leinenstoffe waren reine Naturerzeugnisse aus der Region. Außerdem färbte Ryggen die Wolle selbst und gewann ihre Färbemittel aus der Natur. Sie nutzte Vogelkirsche, Birkenlaub, Steinflechte, Kiefernrinde, Wacholder, Einbeere und viele andere Dinge aus ihrer Umgebung. Zu Ryggens Markenzeichen wurde die Farbe „Pottblau“ oder „Pisseblau“, die aufgrund ihrer speziellen Zutaten sehr bald zum Lieblingsthema der Journalisten avancierte. 

Hannah Ryggen sitzend vor ihrer ersten Webarbeit „Evas Tochter“ in Malmö, 1922, Collection of NTNU University Library, Trondheim

Ryggen soll sich, nach dem was man sich erzählte, mit Trinkern angefreundet haben, die für sie ihren Urin in Flaschen sammelten. Die überdurchschnittlich hohe Ammoniakkonzentration bewirkte ein leuchtendes Blau. Auch davon abgesehen stellte Ryggen oft sehr kräftige Farben her. Ihr war bewusst, dass das Licht mit der Zeit die Farben verblassen ließe, doch dieser Veränderungsprozess war zugleich Teil ihres Werks. Wie die Natur im stetigen Wandel ist, sollten es auch ihre Arbeiten sein.

Es lag ihr am Herzen, dass ihre Werke im öffent­li­chen Raum zu sehen waren

Färben ist keine einfache Angelegenheit – es müssen dabei diverse Variablen kontrolliert werden: die Mengenverhältnisse müssen stimmen, auch die Jahreszeit, wann die Pflanzen gepflügt werden, spielt eine Rolle sowie die Intensität des Lichts. Ryggen hatte sich ein fundiertes Wissen bezüglich der chemischen Prozesse beim Färben angeeignet und gab dieses auch in Kursen, die sie leitete, weiter. Von ihren Zeitgenossen wurde ihre Arbeitsweise jedoch oft zu Unrecht als primitiv, naiv oder bäurisch degradiert.

Hannah Ryggen, Vi lever på en stjerne (Wir leben auf einem Stern), 1958 © H. Ryggen, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Thor Nielsen

Doch ihre Motive konzentrierten sich auf weltpolitische Ereignisse und griffen grundlegende gesellschaftliche Themen, wie Machtmissbrauch oder die Gräuel des Krieges, kritisch auf. Ryggen lebte ihre Weltanschauung im Privaten ebenso konsequent, wie sie diese durch ihre Haltung als Künstlerin zum Ausdruck brachte. Sie verkaufte ihre Werke nie an private Käufer, es lag ihr am Herzen, dass ihre Werke für alle Menschen und im öffentlichen Raum zu sehen waren – so wie nun auch in der Schirn.

Hans, Mona und Hannah Ryggen bei den Heuraufen auf Ørlan­det, undatiert, NTNU University Library, Trondheim