Mythen und Spiri­tua­li­tät tauchen im Surrealismus immer wieder auf – besonders bei der Malerin Ithell Colquhoun. Ein Gespräch über diese Faszination mit dem Okkultismus-Experten Richard Shillitoe.

Im Rahmen der Ausstellung „Fantastische Frauen“ tauchen immer wieder auch Themen wie Alchemie, Mythen und Spiritualität auf – alles Begriffe aus dem Bereich des Okkultismus. Worum geht es dabei und was hat der Okkultismus mit Surrealismus zu tun?

Wörter wie „magisch“, „okkult“ und „esoterisch“ beziehen sich auf Denkweisen, die dem Zeitalter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorausgehen, auf eine ferne Vergangenheit, in der Menschen wichtige Aspekte ihres Lebens, wie Krankheit, Tod und die Fruchtbarkeit der Ernte, verstehen und kontrollieren wollten. Mythen entwickelten sich als Geschichten, im Versuch, Naturereignisse zu erklären. Rituale, Zaubersprüche und alchemistische Experimente waren Möglichkeiten, den Lauf der Natur zu beeinflussen, indem man sich innere Kräfte und übernatürliche Mächte zunutze machte. All diese Phänomene zeugen von großer Vorstellungskraft und poetischer Schönheit, regen unseren Geist bis heute an und inspirieren uns.

Mit dem Einzug der Wissenschaft, durch die Übernahme von Rationalismus und logischem Denken wurden diese Vorstellungen dann nahezu obsolet. André Breton und seine surrealistischen Kollegen glaubten, das rationale Denken habe geradewegs zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs geführt, Wissenschaft und Logik hätten Zerstörung und Leid gebracht: Sie wollten stattdessen die kreativen Fähigkeiten des Geistes entwickeln und verborgenes Potenzial freisetzen. Daher wandten sie sich wieder alten Denkweisen zu und nutzten eine Vielzahl von Techniken, um den Geist und seine kreativen Möglichkeiten zu erkunden, etwa durch automatisches Schreiben, Trance, Traumdeutung und freies Assoziieren. Einige dieser Methoden entstammten dem Okkultismus, andere dem Spiritismus oder der Psychoanalyse.

1939 schrieb die englische Künstlerin Ithell Colquhoun im London Bulletin Nr. 17: „Mein Leben ist ereignislos, hin und wieder aber habe ich einen interessanten Traum.“ Ebenso wie das Okkulte sind auch Psychoanalyse und Traumdeutung zentrale Themen des Surrealismus. Woher kommt diese Verbindung?

Sigmund Freud hat gezeigt, dass ein Großteil der Geistestätigkeit auf unbewusster Ebene stattfindet oder durch die bizarre Welt der Träume, mit ihren seltsamen Bildern und dem Fehlen von Logik. André Breton behauptete sogar, die irrationale Welt der Träume sei ebenso wichtig wie die rationale Welt der Wachwirklichkeit: Zusammengenommen würden sie eine neue überwirkliche Realität ergeben. Auf unterschiedliche Weise schienen die Welten des Okkultisten und des Psychoanalytikers Befreiung und Freiheit von Denken und Handeln zu versprechen.

Colquhoun hielt ihre Träume ihr Leben lang fest und nutzte sie als Grundlage für Romane, Gedichte, Gemälde und magische Rituale. Während aber Breton – Freud folgend – davon ausging, dass Träume dem Unbewussten des Träumenden entstammten, vermutete Colquhoun auch einen Ursprung in astralen Welten. Sie glaubte, im Schlaf sei die Vernunft schwach und wir den Göttern am nächsten und empfänglich für ihre Botschaften. Befreit von den gewohnten Zwängen, seien wir imstande, andere Welten zu besuchen und Besucher aus ihnen zu empfangen. Um diese Ideen in die Praxis umzusetzen, war Colquhoun in den 1950er-Jahren Mitglied eines Arbeitskreises unter Leitung der Jungschen Psycholanalytikerin Alice Buck, der die Macht der Träume zur Vorhersage bevorstehender Katastrophen untersuchte. Leider waren die Ergebnisse nicht schlüssig.

Wie zeigen sich diese Aspekte in den Werken surrealistischer Künstler?

Die Surrealisten waren zwar sehr an Magie interessiert, ließen sich aber vor allem von Sprache und Bildern anregen. Allgemein bestritten sie die Existenz übernatürlicher Kräfte. Einige von ihnen hatten allerdings weniger Vorbehalte. Unter den Künstlerinnen weiß man zum Beispiel, dass Leonora Carrington vor dem Treffen wichtiger Entscheidungen eine Form der Wahrsagung zurate zog, meist Tarotkarten. Und Remedios Varo interessierte sich für Talismane, Hellsehen und Traumsteuerung und experimentierte mit alchemistischen Heiltränken. 

Doch Colquhoun wurde als Einzige auch formal in magische Gesellschaften eingeführt. Sie allein erlernte die Durchführung komplexer Rituale und wusste, wie man Gegenstände zur Verwendung in magischen Zeremonien weiht. Sie allein wurde ausgebildet in Astralreisen und in der Beschwörung von Geistern und Engeln. Jeder Magier benötigt für seine Arbeit eine Kristallkugel oder einen magischen Spiegel. So benutzte Colquhoun einen Spiegel mit verziertem Kupferrahmen, der mit handgetriebenen keltischen Flechtmustern dekoriert war. Vor der Verwendung befestigte sie sich an ihm mit einer geflochtenen Schnur – einer Art Nabelschnur –, um eventuell auftretende Visionen zu verankern.

Mein Leben ist ereig­nis­los, hin und wieder aber habe ich einen inter­es­san­ten Traum.

Ithell Colquhoun
Ithell Colquhoun, Stalactite (Stalaktit), 1962 © Richard Shillitoe
Ithell Colquhoun, Tree Anatomy (Anatomie des Baumes), 1942, The Estate of the late Dr. Jeffrey Sherwin and the Sherwin Family, © Samaritans, Noise Abatement Society & Spire Healthcare
Ithell Colquhouns Spiegel © Richard Shillitoe

In Werken wie „Anatomie des Baumes“ oder „Verbundene Inseln II“ kombiniert Colquhoun Geschlechtersymbole mit Naturelementen: So sieht eine Baumhöhlung aus wie die weibliche Scham, die Inseln dagegen erinnern an phallische Formen. Und es finden sich zahlreiche weitere Beispiele. Inwieweit stammen sie aus der okkulten Gedankenwelt?

Colquhoun war Animistin, sie glaubte also an die uralte Vorstellung, dass der gesamten Natur, auch ihren als unbelebt geltenden Teilen, Lebenskraft innewohnt. Dies gilt auch für die Erde selbst, die lebendig und somit sexuell aktiv ist. Viele Bilder der Künstlerin veranschaulichen das Sexualleben der Erde, sehr deutlich etwa „Stalaktit“. Die Bildsprache von „Verbundene Inseln II“ ist  da etwas komplexer: Auf der linken Seite ist eine heilige Quelle zu sehen, ein weibliches Symbol und Gegenpol zum männlichen Symbol des stehenden Steins rechts. Die beiden Inseln – oder Geschlechter – kommen zusammen und trennen sich im Rhythmus der Gezeiten. Beide Gemälde haben ihren Ausgangspunkt in realen Orten, die Colquhoun besucht hat und deren verborgene sexuelle Seite sie aufdeckt. Den Felsschlitz in „Stalaktit“ gibt es tatsächlich in der Felsenbucht Nanjisel in Cornwall, und „Verbundene Inseln II“ basiert auf der nahe gelegenen Insel St Agnes, die bei Flut in zwei Hälften geteilt wird. „Anatomie des Baumes“ hat keinen spezifischen Ort zur Grundlage, doch wer das Bild kennt, der sieht einen Wald ausgewachsener Bäume künftig mit anderen Augen!

In „Tanz der neun Opale“ brechen magische Strömungen aus dem Erdinneren an die Oberfläche und energetisieren die Steine. Es handelt sich um eine fantasievolle Deutung der Merry Maidens, einem Steinkreis in Cornwall. Die zentrale Form hat die Künstlerin als eine „übernatürliche Blume mit neun Blütenblättern und einem flammenden Stempel“ beschrieben, während die neun Steine den „neun Monden der Schwangerschaft bei fortwährender Befruchtung durch die Sonne“ entsprechen. 

Colquhoun wurde 1940 wegen ihres Engagements für das Okkulte aus der Gruppe der britischen Surrealisten ausgeschlossen. Was steckte dahinter?

Die Londoner Surrealistengruppe wurde von dem Belgier Édouard Mesens geleitet. Angesichts der Kriegssituation drohte 1940 ein Zerfall der Gruppe, und ihre Mitglieder begannen, anderen Aktivitäten nachzugehen. Mesens bemühte sich um ihren Zusammenhalt, indem er unbedingte Gefolgschaft gegenüber dem Surrealismus forderte und einen Verzicht auf alles andere. Colquhoun weigerte sich aber, ihre okkulten Interessen aufzugeben, und musste daraufhin die Gruppe verlassen. Andere, wie die Künstlerinnen Eileen Agar und Grace W. Pailthorpe lehnten ebenfalls Mesens Bedingungen ab und verließen die Gruppe. Agar besann sich später eines anderen und durfte wieder beitreten.

In der Arbeit „Stalaktit“ von 1962, die auch in der Ausstellung „Fantastische Frauen“ zu sehen ist, findet sich am unteren Bildrand anstelle einer Signatur eine Art Emblem. Können Sie es erklären?

In vielen spirituellen Vereinigungen ist es Tradition, dass man mit dem Beitritt einen neuen Namen oder ein Motto wählt, das die neue spirituelle Identität oder Bestrebung symbolisiert. So war der irische Dichter und Okkultist William Butler Yeats, der eine führende Gestalt im Hermetic Order of the Golden Dawn war, bei den Mitgliedern der Geheimgesellschaft bekannt als „Demon est deus inversus“ („Der Teufel ist die Kehrseite Gottes“). Aber nicht nur in magischen Kreisen ist so etwas üblich: Joseph Ratzinger nahm nach seiner Wahl zum Papst etwa den Namen Benedikt XVI. an. Als Colquhoun ihre Ausbildung bei dem Magier Kenneth Grant begann, wählte sie den Namen „Splendidior Vitro“ – „funkelnder als Kristall“. Dies verweist darauf, dass ihre persönliche spirituelle Suche der Reinheit und Klarheit galt. Ab 1962 signierte sie sämtliche Gemälde mit einem Monogramm, bestehend aus den in einen Kreis hineingesetzten Initialen „S“ und „V“ – es sollte zum Ausdruck bringen, dass Kunst und Magie fortan eins seien.

Richard Shillitoe © Richard Shillitoe

Dr. Richard Shil­li­toe ist Biograf der surrea­lis­ti­schen Künst­le­rin, Auto­rin und Okkul­tis­tin Ithell Colquhoun und arbei­tet konti­nu­ier­lich an der Erfor­schung und Publi­zie­rung ihres Werkes.

FANTASTISCHE FRAUEN

SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO

Mehr Infos zur Ausstellung