Der britische Künstler Ed Atkins präsentiert im Martin-Gropius-Bau im Rahmen der Reihe „Immersion“ eine Ausstellung, die unseren allgegenwärtigen Eskapismus in Scheinwelten thematisiert.
Bereits in der Antike galt die Oper als eine Kunstform, die Verknüpfungen herstellt. War dies zunächst nur die Verbindung von szenischer Aktion und Musik, so kamen im Laufe der Zeit immer mehr Elemente hinzu, die unser gegenwärtiges Bild der Oper stark geprägt haben: Kostüme, Requisiten, Bühnenbilder und auch die Technik bestimmen heute wesentlich die Inszenierung einer Oper. Mithilfe dieser Mittel wird versucht eine vermeintliche Realität zu imitieren. Der Zuschauer soll getäuscht werden, um sich besser in die Handlung hineinfühlen zu können. Das ist auch eine Strategie, mit welcher der britische Künstler Ed Atkins arbeitet.
In seiner Ausstellung „Old Food“, zurzeit im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen, ist die Täuschung bereits im Medium begründet: Atkins schafft in seinen Videoarbeiten hyperreale Settings mit animierten CGI-Avataren, denen er seine Stimme verleiht. Auch die drei Protagonisten von „Old Food“ sind auf diese Weise produziert. In fünf Räumen erscheinen auf hochauflösenden Monitorwänden und Flat-Screens ein riesiges Baby, ein Junge im viktorianischem Kostüm und ein Mann im Umhang, die alle der gleichen Tätigkeit nachgehen: weinen. Aus ihren Augen kullern gigantische Tränen, sie schluchzen, verziehen ihre Gesichter. Ihre Mimik löst sich in Traurigkeit auf.
Ein gigantisches Baby
Der Besucher wartet immer wieder aufs Neue auf eine Erklärung dafür, doch Atkins verweigert ihm eine solche Form der Befriedigung. Stattdessen setzen sich die Figuren alsbald ans Klavier. Die Komposition von Jürg Frey zieht sich wie ein roter Faden durch die Räume. Während in einem Video der mittelalterlich gekleidete Junge in einem betonierten White Cube in die Tasten greift, geschieht das Gleiche parallel in einem Landhaus, wo ein gigantisches Baby unbeholfen auf die Klaviatur haut.

Direkt daneben befindet sich eine weitere Monitorwand, auf der der Mann mit Umhang kraftlos seine Hand nach den Tasten ausstreckt, während er mit dem Rest seines Körpers am Boden liegen bleibt. Zwar laufen die Videos synchron zueinander ab, doch lösen die Situationen sich nie auf. Vielmehr scheinen die von Atkins geschaffenen Figuren im Loop gefangen zu sein und damit in einem Teufelskreis der Traurigkeit.
Ohne persönliche Geschichte
Die ganze Ausstellung ist in einen Mantel der Melancholie gepackt, dem man sich als Besucher kaum entwinden kann. Man empfindet Empathie mit den Charakteren, gleichwohl man nicht recht weiß, worauf das eigentlich gründet, handelt es sich bei Atkins' Figuren doch um keine realen Personen, sondern lediglich um Animationen ohne jede persönliche Geschichte.


Das Geheimnis der evozierten Emotionen liegt in der Übersteigerung der Darstellung. Ähnlich einer Fantasy-Serie wie „Game of Thrones“ ist der Zuschauer sich der Fiktion der Darstellung durchaus bewusst, doch die Verhaltensweisen der Charaktere scheinen so real, dass er Empathie mit ihnen empfindet. Man möchte sich geradezu illusionieren lassen. Der Grund, warum solche Fantasy-Serien sich großer Beliebtheit erfreuen, liegt wohl vor allem in dem Eskapismus, dem sich seine Zuschauer hingeben.
Eine analoge, historische Welt
Glaubt man, dass dies ein Phänomen ist, was erst mit Videospielen oder Virtual Reality ins Leben gerufen wurde, so irrt man. Auch die eingangs eingeführte Oper arbeitet mit dieser Sehnsucht nach der Flucht in eine Scheinwelt. Aus diesem Grund scheint es nicht überraschend, dass Ed Atkins für seine Ausstellung „Old Food“ mit der Deutschen Oper kooperiert hat. Die hochauflösenden Bildschirme stehen nämlich insgesamt 280 Garderobenmetern von Kostümen gegenüber, die als „Objet Trouvés“ ausgestellt sind.

Die Kostüme reichen von Produktionen wie „Freischütz“ zu „Macbeth“ und von lumpenartigen Skeletten zu perlenbestickten Kleidern. Eine analoge, historische Welt scheint einer digitalen gegenüber zu stehen. Doch der Eindruck täuscht, erzeugen die Kostüme lediglich eine Illusion von Historizität, ohne dabei tatsächlich alt oder originalgetreu zu sein. Die Kostüme besitzen dadurch große Ähnlichkeit zu den Avataren von Atkins, die uns auch vortäuschen etwas zu sein, was sie nicht sind: menschlich.
Kostüme sind bloß leere Hüllen
Dies ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit, die die computergenerierten Figuren mit dem Fundus der Deutschen Oper haben. Es ist auch eine ähnliche Form des Zugriffs, die hier deutlich wird. In der gleichen Weise wie Atkins die Avatare auf Online-Plattformen kauft und sich zu eigen macht, indem er sie animiert und ihnen seine Stimme verleiht, sind die Kostüme auch bloß leere Kleiderhüllen, die gefüllt werden wollen. Die Kostüme erfüllen erst ihren Zweck, wenn ein Darsteller sie trägt, in ihnen spielt, singt und sie sich dadurch aneignet.

Nach und nach dämmert es, dass der Fokus bei „Old Food“, anders als bei herkömmlichen Ausstellungen, nicht auf dem Gezeigten liegt, sondern auf dem Nichtgezeigten. Die Avatare und die Kostüme symbolisieren die Abwesenheit eines realen Körpers. Der kommt erst durch den Besucher in die Ausstellung und bildet damit die Vollendung von Atkins Inszenierung im Gropius-Bau. Der Wandtext im Vorraum der Ausstellung, von der Plattform „Contemporary Art Writing Daily“ verfasst, kann so als ein Prolog zu „Old Food“ gelesen werden, der sich erst nach dem Besuch gänzlich erschließt: „Das Museum ist auf deinen Körper angewiesen.“

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