Der britische Künstler Joe Tilson verschickt überdimensionierte Postkartengrüße aus seiner Wahlheimat Venedig. Diese sind jetzt zeitgleich zur 57. Venedig Biennale in Frankfurt zu sehen.

Der venezianische Charme lockt inzwischen Besucher im zweistelligen Millionenbereich in die Stadt – so viele, dass die Verwaltung längst nach Wegen sucht, die Touristenströme deutlich einzudämmen. Es gibt aber nun einmal keinen zweiten Ort, der wäre wie die Stadt an den türkisfarbenen Lagunen, die zum Stadtimage ebenso gehören wie der leicht morbide Verfall an Fassaden und Mauerwerk. Die italienischen Maler aus Renaissance, Rokoko und Barock waren hier zu Hause, Kunstmäzenin und Sammlerin Peggy Guggenheim erkor Venedig zu ihrer Wahlheimat, die mit berühmteste und älteste aller Biennalen ist hier zu Hause.

Und auch er: Joe Tilson, 1928 in London geboren, einst mit David Hockney und anderen als Vorreiter einer britischen Pop Art gefeiert. Bis heute als Vertreter dieser Kunstrichtung gepriesen, obwohl er sich schon in den 70er Jahren längst wieder anderen Dingen zuwandte. In Venedig hat Tilson 1956 die Bildhauerin Joslyn Morton geheiratet, bis heute unterhalten beide neben ihren Wohnungen in London und Süditalien ein Studio in der Lagunenstadt.

Porträts der Wahlheimat

„Postcards from Venice“ sind Arbeiten aus und über die Wahlheimat: Tilson porträtiert die Stadt auf Diptychons und auf überdimensionierten Postkarten, die aus ebensolchen Briefumschlägen ragen. Bekannte venezianische Bauwerke sind dort abgebildet, ganze Fassaden oder einzelne Details, begleitet von grafischen Endlosmustern, die über den Bildrand hinauswabern. Die Rauten, Diamanten und Würfel erinnern an die italienischen Kacheln und Fliesen, deren geformte Mosaike auch in Venedig omnipräsent sind.

Joe Tilson, PC from Venice San Sebastiano, 2014, © DIE GALERIE

Wenn die romantische Vorstellung und das tatsächliche Erscheinungsbild jener Stadt übereinander geschichtet werden könnten, dann müsste das Ergebnis ungefähr so aussehen: Übernatürlich strahlendes Blau, Rot und Gelb, ein Leuchten und gleichzeitig schon wieder Verblassen, was der strotzenden Kraft keinen Abbruch tut. Stellenweise wirken Tilsons Grüße wie mit der Ölfarbe skizziert, der dünne Auftrag gibt den Untergrund fleckig frei wie das verwitterte Mauerwerk seine Wandmalereien. In dieser einst undenkbaren Behandlung der Leinwand nicht als Gemäldeuntergrund, sondern Zeichenpapier oder Postkarte, spiegelt sich noch der Geist des jungen Malers Joe Tilson wider, der einst alle Dogmen über Kunst und Malerei Punkt für Punkt notiert und gebrochen hatte. Aus diesen Motiven springen dem namenlosen Empfänger schließlich die Grüße entgegen aus: VENESIA, VENESSIA, VINEXIA.

Strahlend mediterrane Farben

Eine Bildsprache für sich beanspruchen die Finestre Veneziana, die venezianischen Fenster, die an Joe Tilsons toyboxes erinnern, von „Telegraph“-Kritiker Martin Gayford einst als „not much like anything else in the British art of the Sixties“ bezeichnet: In diesen hölzernen Konstruktionen zeigen sich Tilsons Fertigkeiten als gelernter Zimmermann – als hätte jemand ein riesengroßes Memory-Spiel ausgepackt, mit eigenen Motiven versehen und schließlich in die Galerie gestellt. Auch hier sind die Farben strahlend mediterran, statt Postkartenmotiven grüßen Symbole, Lettern und Farbtafeln in Zeichensprache.

Joe Tilson, The Stones of Venice - Il Torre della Orologio, 2016, © DIE GALERIE
Joe Tilson, Finestra Veneziana Bon, 2010, © DIE GALERIE

Mit Venedig hat Tilson viel zu schaffen, mit der aktuellen Biennale nicht – längst widmet er sich der eigenen künstlerischen Mythenschöpfung. Über einhalbes Jahrhundert ist es her, da war Joe Tilson auf der Biennale vertreten: 1964, dem Jahr, in dem die britische Pop Art weltweit durchstartete und auch hier entsprechend zelebriert wurde. Die selbstgezimmerten Kästchen, Rahmen und die leuchtenden Farben finden sich bis heute in Tilsons Arbeiten – ihr Referenzrahmen ist indes ein anderer geworden.

Joe Tilson, PC from Venice Santa Maria della Visitazione, 2012, © DIE GALERIE