Textilkunst hat subversives Potential. Das zeigt eine Ausstellung in Chicago, die das junge britische Architektenkollektiv „Assemble“ gemeinsam mit Künstlern aus New Orleans organisiert hat.

Wenn man in die Tapestry Gallery im Londoner Victoria & Albert Museum geht, sieht man vor allem Wandteppiche vom europäischen Spätmittelalter bis zum Rokoko. Darauf sind Szenen, die irgendwie frivol wirken, Jagddarstellungen, Bilder von Gelagen, fêtes galantes, die Vergnügungen der feudalen Elite einer vormodernen Zeit. Dann, zwischen den dick behängten Wänden freistehende Kostüme, die ganz in Bewegung scheinen. 

Fransen und Federn wirbeln um sie herum, und an den Teilen, die den Körper bedecken, sind mit winzigen Perlen ins kleinste Detail ausgeführte Stickereien zu sehen. Die Kostüme sind Zeugnis der Masking Culture, eines in New Orleans beheimateten Brauchs, der in seiner heutigen Form seit mindestens zwei Jahrhunderten existiert. So wie die Stadt im Süden der USA ein Kreuzungspunkt vieler Kulturen ist, die kaum mehr auseinanderzuhalten sind, ist auch dieser Brauch ein Ineinanderfließen vieler Strömungen.

Katholischem Karneval wurde ein Kostüm übergestülpt

Der katholische Karneval spielt wahrscheinlich eine Rolle, aber die amerikanischen Ureinwohner haben ihm ein Kostüm übergestülpt. Nicht umsonst nennt man die Anhänger der Masking Culture auch „Mardi Gras Indians“ – Mardi Gras ist der Dienstag vor Aschermittwoch. Dann gibt es noch einen weiteren Teil dieser Ursprungsgeschichte: Die Ureinwohner Louisianas haben entflohenen Sklaven Schutz geboten, und so ist dieses kulturelle Amalgam so entstanden. Mit diesen Geschichten kennt sich Demond Melancon aus, der am Material Institute in New Orleans lehrt, und er zählt zu ihren eloquentesten Erzählern. Der Künstler, der den Zusatz „Big Chief of the Seminole Hunters“ im Namen trägt, ist einer der Gründer des Material Institute.

Black Masking Culture, Image via amazonaws.com

Die Kunst- und Modeschule in der Stadt am Golf von Mexiko gibt es noch nicht lange, erst in diesem Jahr wurde sie in einer verlassenen Autowerkstatt gegründet – daran beteiligt war auch die britische Architekturkollektiv Assemble. Maria Lisogorskaya, eine der Gründerinnen der Gruppe, erklärt am Telefon: „Ich bin vor einigen Jahren nach New Orleans gereist, und die Stadt hat mich sofort fasziniert. Die Idee, dort eine Schule aufzubauen, schien mir gleich wunderbar, und je mehr wir daran arbeiteten, umso stärker waren wir involviert. Es war wie eine Sucht, sich auf die Menschen, die Kultur einzulassen.“ Und: „Ursprünglich sollten wir nur ein Gebäude gestalten, und dann haben wir etwas ganz Anderes gemacht. Das war ein interessanter Weg.“

Assemble, eine Gruppe von Architekten, deren Mitgliederzahl zwischen 14 und 20 schwankt, gibt es seit 2010. Damals hatten die Gründer gerade ihr Studium hinter sich, viele von ihnen arbeiteten in Architekturbüros in London. „Es ist ja so, wenn man Architektur studiert, muss man gestalten und Modelle bauen. Schließlich arbeitet man aber nur in einem Büro und entwirft Badezimmer. Wir hatten also den Wunsch, etwas Neues mit neuen Materialien auszuprobieren“, so Lisogorskaya.

Es war wie eine Sucht, sich auf die Menschen, die Kultur einzulassen.

Maria Liso­gorskaya
Demond Melancon, Material Institute, Photo: Duval Timothy

2010, das war auch die Zeit nach der Finanzkrise, als niemand langfristigen Investitionen so recht vertraute, schon gar nicht, wenn es um Immobilien ging. Andererseits standen viele Gebäude leer, ob in Frankfurt, Berlin oder London. Das erste Assemble-Projekt war ein temporäres Kino unter dem Dach einer leerstehenden Tankstelle, nachdem die jungen Architekten von der massenhaften Schließung von Tankstellen in Großbritannien gelesen hatten. Das zweite war ein Theater unter einer Straßenunterführung.

Gestaltung müsse immer in Bezug zur Gesellschaft gedacht werden

Bald verließ das Kollektiv die Nischen und Zwischenräume der Großstadt und begann ihr bisher ehrgeizigstes Projekt in Toxteth. Das Arbeiterviertel in Liverpool war in den bleiernen Thatcher-Jahren ein Herd der Proteste gegen die neoliberale Beschäftigungspolitik in Großbritannien. Seit 1981 herrscht dort von der Regierung geduldete Verwahrlosung. Gemeinsam mit Assemble beschloss eine Anwohnerinitiative, den viktorianischen Reihenhäusern neues Leben zu geben, und dieses Großprojekt namens „Granby Four Streets“ brachte Assemble 2015 den Turner-Preis ein. Fortan sollte es bei dem Kollektiv um nachhaltige Projekte gehen. Architektur, so der Anspruch von Assemble, müsse sich nicht nur mit der Gestaltung von Gebäuden beschäftigen, sondern auch mit ihrer Benutzung. 

Material Institute students, Photo: Duval Timothy
Chris tufting, Material Institute, Photo: Duval Timothy

Die Bewohner sollten einen Anteil haben, und die Arbeit nicht mit der Fertigstellung der Bauten enden. In gewisser Weise ähnelt deshalb das Material Institute in New Orleans vielen anderen Projekten von Assemble. „Wir haben ja keine offiziellen Prinzipien“, sagt Lisogorskaya, aber die ganzheitliche Einbettung erinnere schon an ihre vergangene Arbeit. „Wir haben die Räume gestaltet, das Pilotprogramm zusammengestellt, wir haben nach außen kommuniziert. Das ging über das Design hinaus.“ Gestaltung, so die Gründerin, müsse eben immer in Bezug zur Gesellschaft gedacht werden. 

Etwas aber ist neu bei diesem Projekt: Es steht erstmals Produktion im Vordergrund – von Kunst, Mode und Textilien nämlich. Gerade im Süden der USA hat die Technik des Webens ein besonderes Gewicht. Wie subversiv Textilkunst sein kann, lässt sich nicht nur an den Kostümen im Victoria & Albert Museum in London ablesen. Seit Beginn des Modernismus gibt es Versuche, Webtechniken aus dem Bereich des Kunsthandwerks in die Kunstwelt zu holen. Das ist stets auch ein politisches Projekt, denn diese Art der Arbeit ist gegendert, wird oft von Minderheiten ausgeübt und ihnen wird selten Autorschaft zugesprochen. Zugleich ist das Weben eine der ältesten Kunstformen der Menschheit und Medien, um Geschichten zu erzählen. 

Wir haben ja keine offi­zi­el­len Prin­zi­pien.

Maria Liso­gorskaya
Jonathan preparing yarn to go into hibiscus dye, Material Institute, Photo: Duval Timothy

Das neue Projekt von Assemble und dem Material Institute knüpft an diese Geschichte und Tradition an: „Wir haben uns auf Textilien konzentriert, besonders auf die Materialien und Geräte“, sagt Lisogorskaya. „Die Ausstattung, die wir derzeit haben, vermischt die Traditionen der Textilproduktion mit moderner Technik. Wir versuchen, das alte Handwerk in einen neuen Kontext zu setzen.“ Junge Menschen in New Orleans sollen die Möglichkeit haben, nicht nur ein Handwerk zu erlernen, sondern damit auch finanziell unabhängig zu werden.

Die Besucher sollen an einem Zelt aus gefärbten Textilien weiter weben

Nun hat das Institut seine Arbeit in eine Ausstellung ins Logan Center nach Chicago gebracht, Titel: „Tufting Gun Tapestries“. Woher dieser Name? „Wir hatten eine lange Wunschliste von Maschinen. Dann sind wir auf Tuftingpistolen gestoßen und fanden die ziemlich cool, weil man mit diesen handlichen Geräten schnell Teppiche weben kann. Außerdem ist es einfach, mit ihnen figurative Formen zu herzustellen.“ Gemeinsam mit Demond Melancon, dem Kenner der Black Masking Culture und Lehrer am Material Institute, sowie Duval Timothy, einem weiteren Künstler aus London, hat Assemble eine kollaborative Ausstellung gestaltet: Die Besucher sind angehalten, an einem Zelt aus natürlich gefärbten Textilien weiter zu weben. „Das ist ein bisschen wie gewebtes Graffiti“, sagt Maria Lisogorskaya. Die Tradition des Geschichtenerzählens auf Textilien wird weitergeführt.

Hanging backing fabric in the courtyard of Material Institute, Photo: Maria Lisogorskaya
Threading yarn into tufting guns, Material Institute, Photo: Duval Timothy