Mit seiner Videoarbeit „Takbir“ spannt Künstler Aziz Hazara einen Bogen über die jüngere Geschichte Afghanistans. Den Ruf „Allāhu Akbar“ mit seinen verschiedenen Bedeutungen stellt er dabei in den Mittelpunkt.

Wohl kaum eine andere Nationalflagge eines Staates hat so viele Veränderungen erlebt wie die Afghanistans. Die Neugestaltungen, Änderungen und Modifikationen der Flagge erzählen auf ganz eigene Weise die Geschichte des Binnenstaates, dessen Bevölkerung abwechselnd inmitten imperialer, kolonialer, monarchistischer und religiöser Interessen sowie Revolutionen, Kriegen und Konflikten gelitten hat – und nach wie vor leidet. Am 17. August 2021 erklärten die Taliban auf einer ersten Konferenz nach der Machtergreifung die bisherige schwarz-rot-grüne Trikolore für ungültig, da die Islamische Republik Afghanistan nicht mehr existiere. Die stattdessen präsentierte Flagge des international nicht anerkannten Islamischen Emirats Afghanistans prägt nun wie schon in den 1990er Jahren die Schahāda, das Glaubensbekenntnis des Islams, auf weißem Grund. Das Takbīr, das den Ausruf „Allāhu Akbar“ (Gott ist groß) beschreibt, ist von der Flagge verschwunden.

„Takbīr“ lautet auch der Titel der neuen Videoarbeit des afghanischen Künstlers Aziz Hazara. Das knapp zehnminütige Werk öffnet mit Aufnahmen des nächtlichen Himmels über Kabul kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban: Unscharf scheinen die Lichter der Stadt während die Kamera schimmernde Leuchtkegel im dunklen Nachthimmel zu fokussieren sucht. Die Silhouette des Kameramanns wirft dunkle Schatten auf eine Straße, auf der der Verkehr unerlässlich fließt, bevor sie sich im blauen Licht aufzulösen scheint. Schließlich hört man den Ruf „Allāhu Akbar“, der eine Kettenreaktion auslöst. Die Kamera geht über in eine stete Kreisbewegung, die Lichter der Stadt zerfließen in eine ins unendlich reichende Lichtspur und von allen Richtungen erklingt nun das Takbīr aus Kinder- und Erwachsenenmund.

Ein Ausruf des Protests


Dem Ausruf „Allāhu Akbar“, den Hazara in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt, wohnen verschiedene Bedeutungen inne: Er ist Teil des täglichen Gebets, wird als Kriegsruf genutzt, kann aber zeitgleich auch Ausdruck von Freude, Trauer oder Sorge sein. Während der iranischen Revolution 1979 sowie bei Protesten nach der iranischen Präsidentschaftswahl 2009 erklang der Ruf immer wieder und auch unter der sowjetischen Besatzung Afghanistans in den 1980er Jahren hörten man ihn unter dem nächtlichen Sternenhimmel als Zeichen des Protests. Auch bei arabischsprachigen Christen und Juden findet der Ausdruck Verwendung.

Ich bin damit aufge­wach­sen, die Gene­ra­tion meiner Eltern ist mit dem Krieg aufge­wach­sen, wir waren also schon immer in dieser Situa­tion

Aziz Hazara

TAKBIR

Teaser zu Aziz Hazara Videoarbeit

In Aziz Hazaras Arbeiten, bestehend aus Fotografien, Videoarbeiten, Soundinstallationen und Skulpturen, scheint immer wieder sein Interesse an Erinnerungen, Archiven, Überwachung und Repräsentationspolitik durch. Es ist für ihn tief verwoben mit Geopolitik und dem nicht enden wollenden Konflikt, in dem sich Afghanistan befindet. Unter dem Arbeitstitel „Gift to American People“ versendet er gerade in einem Frachtcontainer 20 Tonnen Abfall von der ehemaligen US-Militär Basis in Bagram in die USA. Der Transport, der über ein Jahr in Anspruch nimmt, wird vom Künstler penibel auf seiner Route über Karachi, den indischen Ozean und schließlich den Atlantik getrackt.

Azizi Hazara, A gift to the American people (Filmstill), 2021–22, Image via www.moussemagazine.it

Klänge als Form der Erinnerung


In der 5-Kanal-Installation „Bow Echo“ (2019), für das Hazara letztes Jahr mit dem Future Artist Generation Preis der Victor Pinchuk Foundation ausgezeichnet wurde, versuchen fünf Jungen beim Balancieren auf einem großen Stein den tückischen, afghanischen Winden zu widerstehen, während sie in kleine Trompeten blasen, deren schriller Klang in den Windgeräuschen zu erlöschen droht: „Die Protagonisten kreieren unheimliche Klänge als eine Form der Erinnerung sowie als Verbindung mit einer Landschaft, in der sich viele traumatische Ereignisse abgespielt haben“, fasst der Künstler seine Arbeit zusammen. 

Von solch unerträglichen Ereignissen und dem Umgang mit jenen Traumata erzählt auch Atiq Rahimis 2004 erschienenes Werk „Khakestar-o-khak“ („Asche und Erde“), die Verfilmung seines gleichnamigen Romans aus dem Jahr 2000. Er wird als weiterer Film im „Double Feature“ zu sehen sein und erzählt die Geschichte vom älteren Dastaguir (Abdul Ghani) und dessen Enkel Yassin (Jawan Mard Homayoun) zu Zeiten der sowjetischen Besatzung. Durch die karge afghanische Wüste machen sich die beiden auf den beschwerlichen Weg zu einer Mine, in der Dastaguirs Sohn arbeitet. Bei einem Angriff wurde das gesamte Dorf, aus dem die Familie stammt, dem Erdboden gleichgemacht. Die einzigen Überlebenden der Familie sind Opa und Enkel, und der in der weit entfernten Mine arbeitende Sohn, dem Dastaguir nun die katastrophale Nachricht überbringen muss.

Atiq Rahimi, Erde und Asche (Filmstill), 2004, © trigon-film.org, image via www.trigon-film.org

In seiner erschütternden, poetischen Erzählung inszeniert Atiq Rahimi eine bewegende Meditation über einen nicht enden wollenden Kreislauf von Gewalt und Vergeltung, der sich tief in die Gesellschaft einbrennt. Der Feind selbst bleibt im Film nicht nur namenlos, sondern in gewisser Weise auch austauschbar. „Khakestar-o-khak“ konzentriert sich ganz auf die vor Ort lebende Bevölkerung und stellt zunehmend Möglichkeiten von Trauerverarbeitung in das Zentrum seiner Dramaturgie. Atiq Rahimi, der unter der sowjetischen Besatzung aus Afghanistan floh und Aziz Hazara, der in den 1990er-Jahren unter der Herrschaft der Taliban aufwuchs und später die US-geführte Intervention mit all seinen Folgen erlebte, trennen gut 30 Jahre. Eine Generation, in der sich die Lebensrealität in Afghanistan kaum verändert hat und von Unterdrückung, Krieg und Gewalt geprägt ist: „Für uns ist das ein alltägliches Phänomen. Ich bin damit aufgewachsen, die Generation meiner Eltern ist mit dem Krieg aufgewachsen, diese Jungs wachsen mit dem Krieg auf, wir waren also schon immer in dieser Situation”, so Aziz Hazara.

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