Der brasilianische Künstler Igor Vidor kennt die Auswirkungen deutscher Waffenlieferungen aus eigener Erfahrung. In seiner Videoarbeit „A Praga“ (2020) konfrontiert er das beschauliche Oberndorf am Neckar, Standort von Heckler & Koch, mit den tödlichen Folgen des Waffenexports.

2008 wurde Wiktor Anatoljewitsch But, der sogenannte „Merchant of death“, festgenommen und zu einer 25-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. But hatte seit Anfang der 90er Jahre etliche UN-Embargos umgangen und diverse Konfliktparteien auf dem afrikanischen Kontinent mit Waffen beliefert – nicht selten verkaufte er Kriegsausrüstung an beide Seiten eines Bürgerkriegs, um die Auseinandersetzungen am Laufen zu halten.

Am Exportverbot vorbei: Waffen von Heckler & Koch

Während die Empörung über Buts Exporte auch hierzulande Wellen schlug, braucht man indes so weit nicht schauen: die Liste jener Länder, in denen trotz bestehenden Exportverbots Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch auftauchen, ist erschreckend lang. Sie wurden trotz des bestehenden Embargos während des Jugoslawienkriegs nach Serbien geliefert, wie zuvor beispielsweise auch nach Nicaragua, Sudan, Tschad oder in die DDR. Ebenso später nach Libyen, Mexiko oder Saudi-Arabien, während Heckler und Kochs Waffen auch bei Massenerschießungen in Thailand oder Brasilien verwendet wurden. Hinsichtlich ihrer Lieferungen resümierte derweil noch 2007 ein Pressesprecher des Unternehmens unverblümt: „Ägypten und Saudi-Arabien sind im Moment schwer. Afrika ist unmöglich, und Thailand kann man seit den Unruhen auch vergessen." Südamerika und Teile der arabischen Welt seien „schwer, aber" gingen.

Teilnahmslos verkünden Schrifttafeln Waffenlieferungen

Der brasilianische Künstler Igor Vidor kennt die Auswirkungen jener Waffenlieferungen aus eigener Erfahrung. In seiner gut 30-minütigen Videoarbeit „A Praga“ (2020) konfrontiert er das beschauliche Oberndorf am Neckar, Standort von Heckler & Koch, mit den tödlichen Folgen des Waffenexports und verknüpft hierbei narrative Elemente mit Archivmaterial und selbstgedrehten Aufnahmen. Die Kamera gibt Einblick in das Stadtmuseum, in dem neben allerlei Lokalkolorit auch die Geschichte der Brüder Mauser erzählt wird, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den gleichnamigen Waffenhersteller, Vorgänger von Heckler & Koch, gründeten. Teilnahmslos verkünden Schrifttafeln dort Waffenlieferungen in diverse Süd- und Mittelamerikanische Staaten um die Jahrhundertwende – wofür die Waffen dort genutzt wurden, wird allerdings verschwiegen. Ebenso das Leid der Zwangsarbeiter*innen während des Nationalsozialismus und die vollständige Ausstattung der Wehrmacht. 

Igor Vidor, A Praga, 2020, Still © Igor Vidor

Dann gibt Vidor den Blick frei auf die ruhigen Straßen und friedvollen Häuser der Kleinstadt in Baden-Württemberg. „Als ich dort war, war ich von der Stille, die die Stadt umgab, schockiert“, so der Künstler im Interview mit dem SCHIRN MAG. Die Bilder von Oberndorf werden plötzlich mit Archiv-Aufnahmen aus Brasilien überlagert: Ausschnitte aus Polizeieinsätzen, fliehende Passant*innen und blutige Schießereien brechen über den beschaulichen Herkunftsort der todbringenden Waffen herein.

Als ich dort war, war ich von der Stille, die die Stadt umgab, schockiert

Igor Vidor
Igor Vidor, A Praga, 2020, Still © Igor Vidor

In seinen Arbeiten befasst sich Igor Vidor immer wieder mit dem staatlichen Gewaltmonopol und dessen Auswirkungen auf den Lebensalltag der brasilianischen Bevölkerung, insbesondere armer, marginalisierter Gruppen. So thematisiert „v.a. 4598 (Rio Olympics)“ (2016) den Abriss von Abertausenden Wohnungen in ärmeren Vierteln in Rio de Janeiro, die im Rahmen der Olympischen Spiele Platz für Sportstätten machen mussten. Die Arbeit „Carne e Agonia“ (2018) zeigt hochauflösende Zeitlupenaufnahmen von Waffentests. Diese untertitelte der Künstler mit Interviewaussagen von Polizist*innen und Drogendealer*innen, ohne dass der Betrachter oder die Betrachterin erfährt, wem diese genau zuzuordnen sind. Die Antworten offenbaren den tödlichen Wahnwitz des sogenannten „war on drugs“, bei dem die jeweiligen Antagonist*innen nicht mehr auseinander zu halten sind.

Persönliche Erfahrungen

Nach Veröffentlichung der Arbeit erhielt Vidor so massive Todesdrohungen, dass er schließlich das Land verlassen musste. Die persönliche Tragweite der Gewalt in Brasilien integriert der Künstler mittels Texttafeln am Ende von „A Praga“ auch ganz konkret in die Arbeit: 2016 wurde sein Jugendfreund Rodrigo nach bestialischer Folter von Polizist*innen mit einer Waffe von Heckler & Koch erschossen. In Oberndorf ist es indes ruhig und beschaulich, die Straßen schmücken die Namen der Waffenerfinder.

Igor Vidor, Carne e Agonia, 2018, Still © Igor Vidor
Igor Vidor, Carne e Agonia, 2018, Still © Igor Vidor

Als weiteren Film hat sich Igor Vidor für den Spielfilm „Bacurau“ des brasilianischen Regie-Duos Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles entschieden. Der 2019 erschienene Film, der in Cannes den Preis der Jury gewann, lässt sich dem Gerne des Weird Western zuordnen, einer Mischung aus Horror- und Sci-Fi-Western. Mithilfe eines großen Schauspielensembles zeigt der Film den Lebensalltag der fiktiven brasilianischen Stadt Bacurau, in der gerade die Matriarchin gestorben ist. Für die Beerdigung kehrt deren Enkelin Teresa (Bárbara Colen) zurück in ihr Heimatdorf und erfährt in den folgenden Tagen von den Problemen, mit denen sich die Dorfgemeinschaft konfrontiert sieht. Der korrupte Bürgermeister der Region hat der Community das Wasser abgedreht, Zugangsstraßen werden von bewaffneten Gangstern abgeschnitten. Zeitgleich begeben sich in der Region reiche, westliche Tourist*innen rund um den sinistren Michael (Udo Kier) hochbewaffnet auf Menschenjagd. Die Dorfbevölkerung bereitet sich auf das Schlimmste vor.

Ein Sieg ohne Happy End?

Die Regisseure Filho und Dornelles inszenieren ihren gewaltvollen, dystopischen Film als Allegorie auf die desaströsen Machtverhältnisse in Brasilien, die hier jedoch die unbedingte Solidarität der Unterdrückten untereinander bewirkt. „Bacurau“ verzichtet dabei bewusst auf zentrale Held*innen und stellt vielmehr die Vielfalt der Dorfgemeinschaft in den Fokus. Kolonialismus, alltägliche Gewalt, kapitalistische Ausbeutung, Marginalisierung – all dies kulminiert in dem solidarischen Aufstand der Unterdrückten, denen jedoch am Ende auch zu dämmern scheint, dass ihre Geschichte nicht zwingend im Happy End mündet, nur weil eine Schlacht gewonnen ist.

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