Wie erlernen wir Sprache? Eva Giolo untersucht in ihrem filmischen Werk Aspekte des Spracherwerbs mit einer explizit femininen Lesart.

Folgt man dem österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein in seinem ersten Hauptwerk „Tractatus logico-philosophicus“, so lassen sich mit der Sprache ausschließlich sinnvolle, sinnlose oder unsinnige Sätze bilden. Sinnvoll sei demnach ein Satz, wenn er das Ding in der Welt korrekt beschreibt („dies ist ein Baum“), sinnlos hingegen, wenn er sich beispielsweise selbst widerspricht („ein verheirateter Junggeselle“). Darüber hinaus lasse sich mit der Sprache eigentlich nichts weiter ausdrücken. Sätze wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ seien sinnlos, spiegeln sie doch nichts in der Realität Vorhandenes wider, sondern behaupten lediglich Dinge, die sich nicht überprüfen lassen. In seinem Spätwerk „Philosophische Untersuchungen“ wiederum verwarf Wittgenstein diese von ihm selbst aufgestellte Theorie scheinbar vollständig und proklamierte: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.

Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

Ludwig Witt­gen­stein

Doch wie erlernt man Sprache und ihren Gebrauch nun konkret? In ihrem Film „A Tongue Called Mother” (2019) gewährt die belgische Künstlerin Eva Giolo einen Einblick. Ihre Arbeit beginnt mit in sich ruhenden Standbildern: Warmes, freundliches Licht schimmert durch die Fenster und gibt die Sicht frei auf leere Klassenräume und Schulgänge. Die farbenfrohen Bilder an den Wänden sowie das vergnügte Kindergeschrei verraten bereits, dass es sich um eine Grundschule handeln muss, noch bevor sich die Gänge mit Kindern zu füllen beginnen.

Am Alphabet entlanghangelnd

Die Kamera führt uns nun vom öffentlichen in den privaten Raum, genauer, in einen Garten, in dem ein Kind spielt. Während die Schüler*innen in der Schule sich dem Alphabet entlanghangelnd Wörter erlernen und diese phonetisch auskosten, wiederholt auch das Mädchen im Garten mit ihrer Oma und ihrer Mutter immer wieder Wörter, erlernt Sprache und erfährt deren Bedeutung gleichzeitig in der eigenen Lebensumwelt. Eva Giolo unterteilt ihren Film dabei lose in verschiedene Abschnitte, die jeweils durch verschiedene Farbtafeln gekennzeichnet sind. Diese Farbwerte bestimmen dabei nicht nur die Komposition der Filmbilder, sondern markieren durch ihren jeweiligen Anfangsbuchstaben auch die Wörter, die die Kinder im Folgenden erlernen werden.

MUTTERSPRACHE UND MÜTTER, DIE SPRACHEN

Gedreht hat Giolo „A Tongue Called Mother“ auf körnigem 16mm-Filmmaterial, was den Bildern eine überaus sinnliche, nahezu haptische Qualität verleiht. Der Titel verweist nicht nur auf den Begriff der Muttersprache, der in etlichen Sprachen eine explizit weibliche Konnotation in sich trägt, sondern wird hier auch ganz plastisch zur Sprache der Mutter: drei Generationen (Oma, Mutter, Kind) geben Sprache einander weiter und füllen diese anhand der je eigenen Erfahrung mit Bedeutung.

Auch in anderen Arbeiten fokussiert sich Eva Giolo, deren Werke audiovisuelle Medien und Installationen umfasst, auf weibliche Erfahrungswelten. In „The Taste of Tangerines“ (2020) lässt eine Großmutter ihren Enkel (und die Zuschauer*innen) nach längerer Trennung an Erinnerungen über ihre Heimat, eine kleine japanischen Insel, teilhaben. Ihr mehrfach ausgezeichneter Film „Flowers blooming in out throats“ (2020), gedreht während des ersten Covid-Lockdowns, thematisiert in einer vielschichtigen Filmmontage unter anderem häusliche Gewalt – ein Thema, das gerade in Zeiten der Pandemie, wie sich an Gewaltstatistiken ablesen lässt, wieder deutlich an Brisanz gewonnen hatte.

Eva Giolo, Flowers bloo­m­ing in out throats (Filmstill), 202o, Image via www.mubi.com

EINE WEIBLICHE NUTZBARMACHUNG VON SPRACHE

Als weiteren Film hat sich Eva Giolo für das DOUBLE FEATURE in der SCHIRN „Liberty: an ephemeral statute“ (2020) der schottischstämmigen Künstlerin Rebecca Jane Arthur ausgesucht, mit der sie zusammen mit zwei weiteren Filmemacherinnen die Brüsseler Produktions- und Vertriebsplattform Elephy betreibt. In dem essayistischen Film porträtiert die Regisseurin ihre Mutter Irene Arthur, die Schottland in den frühen 1970er Jahren für einige Jahre in Richtung USA verließ. Anhand von persönlichen Schilderungen sowie Tonaufnahmen, die Familienmitglieder ihr damals in die neue Heimat schickten, entsteht ein intimer Einblick in die Lebenswelt der zeitweiligen Immigrantin. Die Sehnsucht und Hoffnung auf ein emanzipiertes Leben hatten sie damals gen Westen ziehen lassen, bot doch die schottische Heimatstadt wenig Aussicht auf ein selbstbestimmtes Dasein. In ihren Schilderungen ringt Irene Arthur um eine Sprache, die ihre Lebensrealität abzubilden im Stande ist. Eine Lebenswelt, die exemplarisch wohl auch für die von unzähligen weiteren Frauen ihrer Generation steht. In dem Versuch, sowohl in schriftlicher als auch verbaler Form Worte zu finden, die der eigenen Realität entsprechen und so also überhaupt erst mit Bedeutung gefüllt werden, lässt sich dann auch eine Verbindung zu Giolos „A Tongue Called Mother“ sehen: die Schilderung einer explizit weiblichen Nutzbarmachung von Sprache, die die längste Zeit kaum zu vernehmen war.  

DOUBLE FEATURE

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